Kinder alles sein zu dürfen, nämlich Tagesmutter, sich denen zuwenden zu dürfen, die nichts sagen konnten, aber spüren sollten, dass sie jemand lieb hatte. Sie benannte ihren ersten Sohn nach ihrem geliebten Bruder.
Voller Achtung spricht Mutter Gerda von ihrem Elternhaus. Ihr Vater war ein hoch begabter Buchhalter, der es verstand, vielen Menschen zu einer Unterkunft zu verhelfen. Gerda Kunze erzählte von den Jahren, ehe der Krieg die Oder-Neiße-Grenzstadt endgültig teilte, berichtet schmerzlich von der dreimaligen Flucht in 1945. Im Januar vor den Russen, im Juni, ein Tag bevor die Neiße Grenze wurde, führte der Vater eine Kolonne zurück, am 16./17. November schließlich erneute Vertreibung, diesmal durch die Polen auf die Westseite der Heimatstadt.
Die Mutter bekam am 30.11.1956 endlich ihr Wunschkind. Nach all den Entbehrungen und all dem Wartenmüssen auf ihren Mann. Sie ist stolz auf ihren Jungen. Ein hübsches Kind in allen Phasen. Im Wesen ein zurückhaltender und leiser Mensch. Das sei bis heute so. Nichts habe ihn korrumpieren, nichts wirklich deformieren können. Seine innere Aufrichtigkeit und Geradlinigkeit scheint ihm nach diesem Zeitalter der Extreme wohl in die Wiege gelegt worden zu sein. Überhaupt: Heinz und Ulli konnten nach Meinung der Mutter gar nicht anders werden. Als gelernte Säuglingsschwester und spätere Osnabrücker Grundschullehrerin sind wohl gut 1000 Kinder durch ihre geschulten Hände gegangen. Nun aber war die Zeit reif für die eigenen Kinder. Dafür hatte sie sogar in der Zeit der Kriegsgefangenschaft ihres Mannes ein Topangebot für eine leitende Stelle in einem der größten Säuglingsheime mit eigener Milchsammelstelle der ehemaligen DDR in Cottbus ausgeschlagen. Ihrem Chef teilte sie damals lapidar mit: Ich kann nicht, ich bin verlobt. Nun also Heinz als die große Belohnung für das geduldige Warten. Ein Geschenk des Himmels.
Heinz Rudolf war von klein auf sprachbegabt und kann, wenn er dies auch selbst nicht gerne hört, aber dann doch zugibt, druckreif sprechen. Dabei fehlte es nicht an Imposanz: Als er einmal mit dem Herrn Papa ausfuhr, begegnete ihnen eine vorbeifahrende Eisenbahn. Auf die Frage, wer denn da wohl vorüberfahren würde, antwortete der Junge keineswegs mit Eisenbahn, sondern verkündete gewichtig: Konrad Adenauer!
Im März 1960 saß er nachweislich das erste Mal mit am Klavier von Frau Dr. Steinmann und war als Dreijähriger ziemlich gewiss, er wolle nun auch ein eigenes.
Als Blondschopf mit Brille sehen wir ihn ein erstes Mal im Garten vor dem neuen Zuhause in Altepiccardie an der holländischen Grenze, wo
Vater seine Stelle seit April 1960 innehatte. Rudi Kunze übernahm die Klassen eins bis vier. Man wohnte oben in der Schule, was für den Lehrernachwuchs offenbar früh und entscheidend dazu beitrug, dass schulische Leistungen nur so von der Hand gingen. Überhaupt, eigentlich wurden in der Altepiccardie Grundsteine für so vieles an Begabung gelegt und frühkindliche Prägungen mitgegeben.
Hierhin gehören alle Anfänge vom ersten Gehen der eigenen Wege, dem Ausprobieren von Klarinette, Trompete, Klavier und Miniorgel und der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, hier finden sich Freunde und Freundinnen, in diese Zeit werden auch erste Grenzen ausgelotet, beim Schwimmen lernen, beim Fummeln, im Fußballeinmaleins und im Ausgelassensein bei der Dreiradrallye auf dem Ferredo-Flitzer.
Für Heinzens Sprachentwicklung freilich war die Verpackung des Fernsehapparates beinahe genauso folgenreich, denn aus dem wunderbar großen Verpackungskarton wurde mit Hilfe von Buntpapier eine erste Bühne für das Kasperletheater gebaut. Mit Hilfe eines Rezitationslehrers, dem Bruder der Großmutter, wurden »Max und Moritz« nicht nur gesprochen, sondern bald auch gesungen. Außerdem schickte sich der Vater an, mit dem Jungen lustvoll Theater aufzuführen.
Der Knirps schoss den Bock ab, als er seine erste Vorstellung als kleiner Pastor in der Piccardie abgab. Und das begab sich folgendermaßen: Eben jener Bruder der Immer-für-dich-da Oma pflegte mit frisch geputztem Auto am Sonntag zur Kirche zu fahren. Brav und artig, wie der Junge Heinz war, ging es im Sonntagsstaat mit. Als eines Tages wieder einmal das Auto bei der Kirche stand, stockt Heinzi beim Einsteigen. »Ich habe den lieben Gott betrogen«, konstatiert der Pimpf betroffen. - »Was hast du gemacht?«- »Ich habe 20 Pfennig zurückbehalten, weil ich noch mehr Eis für mich wollte.« - Es gab ja es jeden Sonntag ein Eis und da sollte der auffällige blonde Junge, der Sohn des Lehrers, der im Gegensatz zu den meisten anderen Kindern Hochdeutsch sprach und Platt gar nicht recht verstand, ausgerechnet dieses Mustersöhnchen sollte nun also den lieben Gott und die Kirche samt Pastor übers Ohr gehauen haben? Was tun? Guter Rat war teuer. Besorgt fragt der Vater: »Sollen wir zwei Groschen einle-gen?« - »Nein«, wehrt der Junge entschieden ab, »ich esse nächsten Sonntag kein Eis ...«
Der tief eingebrannte Sinn für Gerechtigkeit ließ das früh erwachte Gewissen reagieren: Das kannst du deinem Vater nicht antun. Dieser freilich war von der Reaktion seines Filius so angetan, dass er das nächste Eis ausgab, weil die Anständigkeit und Artigkeit seines Jungen es sich verdient hatten.
Und die Musik?
Angefangen hat alles mit den Beatles. Die Platten-Oma Gertrud Lehmann, geb. Fischer, verhalf zum Durchbruch mit Sergeant Peppers Lonely Heart’s Club Band für damals ganze 11 DM. Mutter Kunze war bereits im Grundschuldienst in Osnabrück, als ihre damalige Rektorin sie fragte, ob sie denn die Beatles kenne. Gerda Kunze ließ sich das nicht zweimal sagen, ging mit ins Kino, sah sich den entsprechenden Film an und blies zum Großangriff auf die westliche Popkultur. War sie klassische Kultur mit einem regen Theaterleben durchaus gewohnt, galt es nun, sich Neuem nicht zu verschließen. Ganz kurz vor Weihnachten also - »Deine Mutter sagt die Wahrheit« - ging es in die Stadt, die erste Schallplatte wurde hübsch eingepackt, Großmutter gab das Geld.
Heinz war von seiner Karl-May-Lektüre aufgeschreckt und doch voller Begeisterung. Im Wohnzimmer stand der Weihnachtsbaum. Aber alle mussten zu ihm ins kleine Zimmer. Mutter wollte schließlich nicht zurückstehen und den Dialog mit ihrem Sohn führen können, und also begann die Periode der »Schreckgespenster-Platten«. Vater, Mutter, Großmutter mussten alle mit und mithören, alle mussten hören kommen.
Und dann, ja dann kam der zweite Streich: The Who, die große Liebe, die zweite Platte, erzählt die Mutter mit leuchtenden Augen: »Was mussten, was durften wir die immer wieder hören ... !«Die eigene Familie war das erste Auditorium. Später hatte er vom jüngeren Bruder, Jahrgang 1968, die Doppel-LP geschenkt bekommen, »eine ideale Musik beim Ausputzen des Weihnachtsbaumes«, sagt Gerda Kunze mit ihrem Mutterwitz.
Kunze früher einmal dazu selbst: »Meine 1. Platte bekam ich von Oma. Mit Sergeant Pepper’s Lonely Heart’s Club Band. Sie ermöglichte mir so den Königseinstieg in meine spätere Plattensammlung und hatte dafür einen Teil ihrer Rente investiert«. Die zweite Platte war »Tommy« von The Who. Die dritte »Electric Ladyland« von Jimi Hendrix. Die vierte von Blind Faith und unter den ersten 100 war auf jeden Fall »Yes« mit »Beyond and before« dabei. Freilich auch Ian Anderson von Jethro Tull »Living in the Past« ...
Und die Literatur?
Ach ja, da ist ja noch die Geschichte mit Sir William Shakespeare, die Familie Kunze schon lange mit dem sprachsüchtigen Heinz verbindet. Von seinem Englischlehrer Arnemann weiß Ex-Schüler Kunze noch genau: Er verpasste ihm die erste Vier in seinem (schulischen) Leben. Und das in Englisch! Der Lehrer war ein sehr fordernder, strenger Pädagoge alter Schule,
dessen Unterricht Kunze oft als harten Drill empfunden hat. Zugleich prophezeite er seinem Schüler aber: Kunze, ich will Sie auf ne Eins kriegen, aus freiem Willen. Für einen Durchschnittsschüler zunächst keine echte Panne. Wohl aber für einen, der das Siegen zumindest mit Blick auf die Zeugnisnoten gewohnt war.
Читать дальше