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2 Mutterwitz und Vaterland - Notizen aus Kindheit und Jugend
4022 Tage und Nächte vergingenvon der Verlobung bis zur Hochzeit von Rudi und Gerda Kunze, geb. Lehmann, am 4.2.1956 in Lengerich/West-falen. Den Stoff für das Brautkleid hatte sie längst gekauft. Als der Bräutigam in der Nacht nach Friedland kam, nahm man Maß. Innerhalb von einer Woche war das Brautkleid fertig. Die Familiengeschichte von Heinz Rudolf Kunzes Eltern liest sich wie ein zeitgeschichtliches Märchen mit Happyend.
In Mutter Gerda Kunze begegnet dem Besucher heute in ihrer Seniorenresidenz eine aufgeschlossene und geistig sehr wendige Dame. Sie gehört zu den gründlichen, genauen Menschen. Ihr entgehen gerade die Kleinigkeiten nicht, wenn sie Rückschau hält auf ihr bewegtes Leben. Und so baut sie in unsere Begegnung auch die Möglichkeit zu einem längeren Telefonat mit dem jüngeren Bruder Rolf-Ulrich ein, der als Historiker wissen muss, wovon er spricht: von der Omnipräsenz der Geschichte in seiner Familie. Was Kunzes machen, machen sie gründlich. Deutsche Wertarbeit sozusagen. Und doch immer auch mit Skrupel.
Für das Werden und Entstehen ihres ersten Kindes jedenfalls erging es den Eltern beinahe wie in der Bibel.
Der angehende Dichter und Denker Heinz Rudolf Erich Arthur Kunze sagt und singt von sich selbst:
Vertriebener
(...)
Ich wurde geboren in einer Baracke
im Flüchtlingslager Espelkamp.
Ich wurde gezeugt an der Oder-Neiße-Grenze.
Ich hab nie kapiert, woher ich stamm.
Ich bin auch ein Vertriebener.
Ich will keine Revanche, nur Glück.
Ich bin auch ein Vertriebener.
Fester Wohnsitz Osnabrück.
Meine Mutter war so treu, daß mir schwindlig wird.
Mein Vater war bei der SS.
Ich heiße Heinz wie mein Onkel, der in Frankreich fiel,
und Rudolf wie Rudolf Heß.
Ich bin auch ein Vertriebener.
Schlesien war nie mein.
Ich bin auch ein Vertriebener.
Ich werd überall begraben sein. (Papierkrieg, 146)
Heinz trägt den Vornamen seines Onkels, der zwei Tage nach dem Attentat auf Hitler am 22.7.1944 fiel. Mit großer Wehmut erinnert sich Gerda Kunze an ihren Bruder. Noch im November 1943 traf der geliebte Bruder Heinz auf den künftigen Ehemann Rudi und teilte seiner Schwester mit: »Bin einverstanden, du kannst Rudi heiraten«. Ein Versprechen erbat sich der Bruder von der Schwester: »Gehe nicht an die Front!«Und sie wusste es, dass nach ihrem Abitur 1944 Reichsarbeitsdienst, Einsatz bei den Bauern, FLAK, Front und Rotes Kreuz auf sie warteten. Am 28.12.1944 folgte dann das Verlöbnis, das über elf Jahre Warten auf den Partner nach sich zog. Die Verlobten waren sich einig: Die Hochzeit sollte erst in besseren Jahren stattfinden.
Der Vater spielt bereits in den frühen Gedichten von Heinz Rudolf Kunze eine besondere Rolle. Mit Blick auf die deutsche Geschichte ist sich Kunze bewusst:
die Menschen am Wegesrand
könnten Vater oder Mutter sein
sie nehmen gerne überhand
haltet Abstand macht euch nicht zu klein
sie werden Märchen erzählen
von Schuld und Sühne
daß sie dort waren wohin ihr noch geht
ist sollt sie ausreden lassen
beim Wort sie nehmen
weil so viel Mögliches in Märchen steht (...).
Bei aller kritischen Sichtung mit Blick auf die soldatische Vergangenheit des eigenen Vaters überwiegt die Liebe des Sohnes, der um die biblische Weisheit Elijas am Horeb weiß: Er selbst ging eine Tagereise weit in die Wüste hinein. Dort setzte er sich unter einen Ginsterstrauch und wünschte sich den Tod und sagte: Nun ist es genug, Herr. Nimm mein Leben; denn ich bin nicht besser als meine Väter.
Ich wollte meinem Vater noch die Rechnung präsentiern
ich habs vergessen
ich sollte meine Kinder in Gelobte Länder führn
ich habs vergessen...
(...)
Den Unterschied von Gut und Schlecht und wer den Krieg gewann
ich habs vergessen
wie spät es ist und wann genau mein Haarausfall begann
ich habs vergessen...
Aus den Augen aus dem Sinn
ach wie gut daß jeder weiß
daß ich kein Messias bin
planlos in die Glücksbanane beiß, konstatiert er in Vergessen
(Nicht daß ich wüßte, 171).
Und was geschah mit dem Vater tatsächlich? Januar 1945 Ostpreußen, anschließend russische Kriegsgefangenschaft. Der Vater von Heinz wurde im Januar 1956 als einer der letzten Heimkehrer heimgeführt mit Adenauers Hilfe. Bischof Heckei, der Vater der Kriegsgefangenen und Kirchenamts-außenleiter, setzte sich mit für Rudi Kunze ein. Der Verlobte kehrte also erst im Geburtsjahr des langersehnten ersten Kindes zu seiner Braut zurück. Als die Wehrpflicht bereits erneut Soldaten einzog, sollte Rudi Kunze auch wieder mit von Partie sein, z.B. in der FDJ oder so. Ohne Hass auf die Russen zu schüren, fragte er nur zurück: Soll ich nun vom Regen in die Traufe? - und zog die zivile Laufbahn als Lehrer vor.
Ein Wunsch und Glückwunsch des Sohnes:
...ein Wunsch des Sohnes:
Befreiter Kunze.
Ein Glückwunsch:
Rührung.
Weitermachen.(Heimatfront, 44)
Dass die Liebe des Sohnes zu Vater und Mutter immer wieder stärker ist als die Last der Vergangenheit, spürt der ausdauernde Kunzeleser für das Schicksal so vieler Kinder der Nachkriegsgeneration Deutschlands heraus. Trotzdem taucht er immer wieder zurück »in den brodelnden Urschlamm aus Geschichten und Geschichte, der sich ablagerte im Kindergehirn, seit Dschungelforscher sonntagmorgens im Bett des ausgebufften Abenteuererzählers dieses Koppelschloß trugen mit der knochenharten Totenkopfmaxime drauf, irgendwas wie: Entschlossenes Handeln ist oberstes Gebot, selbst wenn es falsch ist, sehr markig, sehr deutsch, sehr Nibelungenkrebs.«
»Der Krieg ist der Vater aller Dinge«, das wusste bereits der Grieche Hera-klit. Heinz Rudolf Kunze reicht es nicht zu sagen, »das Flugzeug auf deiner Stirn hat Sperma im Propeller das reicht nicht bei Gott das reicht nicht«, denn es ist des Fragens kein Ende.
»Es ist gut, subjektiv zu sein, aber es ist nicht gut, privat zu sein.«- Ein hoher Grad von Sensibilisierung und die Bereitschaft auch zur politischen Auseinandersetzung, das prägte ihn von Anfang an - kein Wunder also, dass Kunze Jahrzehnte später in einer Enquetekommission des Deutschen Bundestages für Kultur in Berlin landet...
Doch kehren wir noch einmal bei seiner Mutter ein und damit bei den Anfängen jener deutsch-deutschen Kindheit Kunzes, in der deutsche Geschichte und Geschichten omnipräsent sind. Küchenpsychologisch, meint der Bruder, sei die Erfahrung mit Wissen belastet, und jeder der beiden Kunzesöhne habe sich auf seine Weise freigeschwommen. Freigeschwommen von der Weltgeschichte eines Volkes mit einem Alleinstellungsmerk-mal, freigeschwommen von dem starken Vater und der gewiss ebenso starken Mutter.
Heinzens Lieblingsbild der Mutter zeigt eine hübsche junge Dame mit linksgescheiteltem dauergewelltem Haar und strengem Lächeln über kleinem Ausschnitt eines dunklen Jacketts mit einem aufmerksamen Kraushaardackel auf dem Schoß, aufgenommen als sie 19 Jahre alt war in einem Gubener Fotoatelier.
Gerda Kunze ist eine starke Frau. Ihr ausgesprochen offenes und zugleich bestimmtes Wesen schenkt ein Gegenüber für einen lebendigen Dialog. Ihr Gedächtnis ist verblüffend. Ihr beruflicher Traum war Kinderärztin gewesen. Ihr letzter Antrag für ein Studium in Halle wurde abgelehnt, weil sie nicht zur Bauernintelligenz zählte. Doch wie so oft hat der Krieg auch hier alle Pläne durcheinandergeworfen.
In der Tat befolgte sie beide Ratschläge des geliebten Bruders Heinz: Sie wartete geduldig auf ihren Ehemann, 4022 Tage und Nächte, und sie vermied Fronteinsätze. Sie hatte Angst vor der Einberufung zum Reichsarbeitsdienst. Drei Wochen nach der Uniformierung wurde sie sehr schnell krank. Das war das Glück für die ehemalige Oberschülerin des Gubener Lyceums und ließ sie der größten Gnade unter den Kommunisten teilhaftig werden: Nach einer Einweisung im Pestalozzi-Fröbel-Seminar in Berlin für Kinderkrippen empfand sie es als großes Geschenk, für über 1000 fremde
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