Freilich: Der »Kick« bei Kunze kommt erst auf den zweiten Blick, in zweitbester Fahrt, beim Wiederhören. Wo er auftritt, heißt es: aufgepasst! Keine(r) kommt ungeschoren davon, will heißen, ist eingeladen zum Nachdenken über sich und den anderen, Gott und die Welt.
Viele Texte sind erst mit einem gewissen Abstand zu genießen. Andere verblüffen durch ihren unmittelbaren Bezug zum Alltagsleben, wie es jeder kennt. Manche musikalischen Ohrwürmer bohren sich im Laufe der Jahre tiefer und tiefer in die Seelen der Zuhörer. Andere überraschen durch ihre Eingängigkeit mit ihrer Doppelbödigkeit, die wiederum der Text mitliefert.
»HRK«, das ist ein Markenzeichen, ein brand name. Kaum ein Künstler hat ein derart breit gefächertes Publikum, das unauffällig scheint, aber stets hohe Erwartungen an die nächste Botschaft dessen hat, der von sich sagt: Lebend kriegt ihr mich nicht.
»Wunderkinder«, ein Liedtitel, ist nicht von ungefähr auch der Name eines ausgewiesenen Fanclubs. In der Tat, Kunze selbst hat das »Sich-Wun-dern-Können« offenbar nie verlernt, von dem schon die alten Griechen wussten, dass es der Anfang aller Philosophie ist. Der Künstler entzieht sich gängigen Klischees. Ihm kommt es nicht darauf an, sich mit Skandalen die Gunst der Medien zu erwerben, eine Performance auf Kosten seines Publikums abzuziehen oder mit einem einzelnen Hit in den Vorruhestand zu gehen. Freilich hat er eine Option für den geplagten, gestressten, leidenden Zeitgenossen.
Wie eine Umfrage der Plattenfirma gezeigt hat, belegt eine Genderanaly-sis dabei eindeutig, dass beinahe 70 % seiner Hörer Hörerinnen sind.
In einem WEA-Interview im Dezember 2000, das auch im Gemeindebrief der Heinz Rudolf Kunze-Fans »Die Wunderkinder«, Heft Nr. 14 abgedruckt ist, befragt ihn Alfred Biolek.
Biolek: Abgesehen davon, dass Sie glücklich verheiratet sind, spielen die Frauen eine wichtige Rolle in Ihrem Leben?
HRK: Ich weiß mit großer Freude und Genugtuung, daß die Mehrzahl der Menschen, die meine Alben kaufen, Frauen sind. Das hat die WEA mal herausgefunden, nachdem wir eine Untersuchung gemacht haben. Ich habe gar nicht damit gerechnet. Ich bin kein »Womanizer«, nicht besonders umtriebig. Ich bin tatsächlich stetig verheiratet und nicht ständig auf Achse. Aber wenn ich höre, daß die Weiblichkeit mich gerne hört, bin ich darüber sehr froh und empfinde es als Kompliment. Gerade weil ich ja auch nicht gerade unbedingt aussehe wie ein Star.
Biolek: Ich auch nicht, und ich habe auch hauptsächlich weibliche Zuschauer.
HRK: Ich habe einmal ein Erlebnis gehabt: Eine Journalistin eines Stadtmagazins aus Hamburg sah aus wie eine klassische Punkerin, mit Rasierklingen im Ohr, blaß geschminkt und schwarzem Lippenstift, ganz furchterregend. Sie kam auf mich zu und ich dachte, die will mich abschlachten. Sie sagte: »Herr Kunze, ich danke Ihnen. Ich habe das Gefühl, seitdem ich Ihre Sachen höre, daß ich die Männer etwas besser verstehen kann.«
Was hat man ihm nicht alles nachgesagt in dem Vierteljahrhundert Lebensarbeit! Eine Fülle von Rückmeldungen aus Fanpost, Aktenordner voller Interviews, Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen, Radio- und Fernsehmit-schnitten haben ihm Dutzende von Prädikaten, Namen und Eigenschaften zugewiesen. Die Skalierung reicht von einschränkenden Unterstellungen wie frauenfeindlich, unsexy und Oberlehrer über politische Schubladenversuche, vom echten Ossi über Sympathisant für die rechte Szene bis zur linken 68er Ecke. Für die einen der singende Philosoph, für die anderen das Sprachgenie unter den deutschen Liedermachern. Der kongeniale Übersetzer von Sir William Shakespeare oder New Yorker Slang (wie im Musical »RENT«) wird erst langsam über die Kreise von Insidern hinaus erkannt.
HRK - also doch ein Mann ohne Eigenschaften? Gewiss nicht, aber Künstler und Kunstwerk lassen sich in keine Schublade stecken. Für Kunze spielt eigentlich alles und jeder eine Rolle. Nichts und niemand ist ihm wirklich gleichgültig. Er, sie oder es kann höchstens dem inneren Auge für eine Zeit entschwinden.
Aber: Was gut ist, kommt wieder. So auch Kunze selbst. Er hat im Laufe der Jahre seiner Ausübung einer Passion, die zur Profession geworden ist, genaue Erinnerung an die Atmosphären seiner Auftrittsorte. Ein Gespür für die Dichte der Gestimmtheit seines Publikums.
Selbst hinter fetzigen Hardrockpassagen und anfeuernden Refrains weckt der leise Mensch Heinz Rudolf Kunze die Geistesgegenwart seiner Leserinnen und Hörerinnen und lässt diese ihre Türen nach innen selbst öffnen. Aber er geht seine eigenen Wege mit seinem »Stirnenfuß« (nach dem er oft gefragt wird und sich dann wundert, dass diese Metapher so schwer verständlich sei: Sie sei einfach ein Phantasiegebilde, ein zusätzliches Gliedmaß, mit dem er sich durch Raum und Zeit bewege ...). Vielleicht ist er doch so etwas wie ein Prophet, der in seinem eigenen Land sagen kann, was Gültigkeit hat.
Der Skandal: Palmsonntag 2005
HRK rahmt seine Frühjahrs- und Herbsttournee 2005 »Das Original«, mit einer Serie von literarischen Konzerten, mit dem provokanten Titel »Bockwurst und Schadenfreude«. Eines davon findet in Hersfeld im mittleren Westdeutschland statt, wo einst eine Abschrift von »Germania« des Römers Tacitus gefertigt wurde: der codex Hersfeldensis.
Zum Auftakt der Karwoche kommt HRK dieses Mal mit Gitarre und Wolfgang Stute: »Bockwurst und Schadenfreude« - Eine Lesung mit Musik. Veranstaltungsort: eine Kirche, gut besucht wie selten. »Knocking on Hea-vens Door« wird von derKonfirmanden-Band Emporion zur Begrüßung beigesteuert. »Grönemeyer? Westernhagen? - Kunze!« - freudig erregt überreicht ein weit angereister Fan ein T-Shirt mit eindeutiger Botschaft.
Dann folgte: ein voll gerütteltes Maß an Texten. Wer ihn zum ersten Mal so erlebte, konnte sich als Gast entweder mit Grausen abwenden und gehen (das wollte keiner) - oder man und frau sehnen sich nach mehr.
Was aber berichtet die Presse? Mit dem »Poet des wachen Deutschland«, aber dann vor allem mit der schlagzeilenartigen Überschrift: Jesus als »Zölibat äre Ulknudel«, nimmt ein Provinzpresseskandal in der Konrad-Duden-Stadt seinen Lauf...
Was war »passiert«?
Neben Dutzenden von Songs und Texten hatte Kunze auch diesen aus dem damals noch unveröffentlichten Buch »Artgerechte Haltung« laut werden lassen:
WAS MACHT EIGENTLICH ...
Jesus Christus? Tankwart im Irak? Platzanweiser im Zirkus Roncalli als »Subalterner Verhökerer des Illusionären« (André Heller, Berufs-Anfänger)?
Seit langem ist es
still geworden um den sympathischen Nazarener.
Seine frühen Erfolge als
Zölibatäre Ulknudel (übers
Wasser gehen und es dabei in
Wein verwandeln u. ä.)
sind nahezu vergessen ...
Was nun folgt, ist eine böse Überraschung. Wie ein kleiner Tsunami verbreitet sich trotz einer brennenden Begeisterung der anwesenden Besucher eine Hetzkampagne ohne Sinn und Verstand. Also doch nichts mit der Perle des Protestantismus, also doch kein Prophet für das glaubensschlaffe Deutschland?
Ein klein wenig mussten sich zufriedene Veranstaltungsbesucher an die Zeile von Konstantin Wecker erinnert fühlen: »Immer noch werden Hexen verbrannt auf dem Scheiterhaufen der Ideologien.«Denn mit einem Mal lockte die Schlagzeile Holzscheitträger aus ihren Löchern, spaltete ein aus dem Zusammenhang genommenes Wort aus dem Gedicht wie eine scharfe Axt Gralswächter und Buchhalter, Zeitungsleserund Besucher. Da schreibt selbst ein Konfirmand spontan einen Leserbrief, weil er nicht versteht, wie eine Kirchenleitung eben noch Geld zur Veranstaltung für einen Künstler gibt, den die Kirche mit dem Kirchentagssong beauftragt, dann selbst die Veranstaltung nicht besucht - und dennoch aufs Schärfste kritisiert.
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