Was wie eine konzertierte Aktion gegen Konzert, Poem und Veranstalter wirken muss, bleibt nicht ohne Gegenwirkung. Ein Prophet, ein preußisch protestantischer dazu, fackelt nicht lange umeinander, sondern sendet seine Scheltworte aus und philosophiert mit dem Hammer. Man muss das Gerüchteeisen schmieden, solange es heiß ist: versuchter Dichtermord mit Pfaffenopfer!
Die Presseerklärung des Künstlers, die die Zeitung unter der Rubrik Leserbrief am 27. März 2005 veröffentlicht, ist jedenfalls eindeutig:
»Es ist traurig und ermüdend, sich immer wieder mit den gleichen Erscheinungsformen von geistiger Hartleibigkeit herumschlagen zu müssen. Waren diese Leute, die sich jetzt »verletzt« fühlen, in meinem Konzert? Haben sie jemals mit mir gesprochen? Nein. Ich kann mich nur an ausnahmslos begeisterte Zuhörer erinnern.
Jeder zurechnungsfähige Deutschlehrer sollte bereits einem Sechst-klässler vermitteln können, daß man die Meinung des Autors nicht mit dargestellten Meinungen verwechseln darf. Meine Aufgabe als Dichter ist es, die ganze Welt zur Sprache kommen zu lassen. Das heißt auch, mit Meinungen zu spielen. Das heißt nicht, die Leser mit meiner Privatmeinung zu belästigen. (Die übrigens die eines Menschen ist, der jeden Tag betet.) Bei theologisch vorgebildeten Individuen hätte ich eigentlich erwartet, daß dieses primitivste Mißverständnis im Umgang mit Literatur nicht auftritt. Wenn ich Jesus als »Ulknudel« bezeichne, spiele und zitiere ich die Spezies des neudeutschen zynischen Medienarschlochs. Nicht mehr und nicht weniger. Daß das lustig sein kann, nehme ich in Kauf.
Daß Pfarrer Barthelmes und der Kirchenvorstand der Martinskir-chengemeinde, großartige Gastgeber mit Humor, Herz und Verstand, jetzt öffentlich angerempelt werden, ist eine Unverschämtheit. Ohne Menschen wie sie wäre die Kirche längst tot.
Durch meine Zusammenarbeit mit dem Evangelischen Kirchentag hatte ich schon geglaubt, das leitende Personal bestünde ausschließlich aus so freundlichen, aufgeklärten Leuten wie dem Umfeld von Frau Bischöfin Käßmann. Aber die Pharisäer sind offensichtlich nicht kleinzukriegen.
Letztlich ist es mir egal, was Leute mit Heckenschützenmentalität von mir halten. Und als - natürlich rein poetisch gemeinte - Schlußbemerkung: Ich lasse mir die Korintherbriefe nicht von Korinthenkackern vermiesen. So sind wir halt, wir Künstler. Für einen guten Kalauer würden wir jederzeit unsere Großmutter verkaufen. Das ist unsere satanische Achillesferse. Und wir sind stolz darauf.«
Ein Künstler lässt sich das Maul nicht verbieten. Nein, Gott lässt sich nicht spotten, aber wer sich selbst wichtiger nimmt als den, auf den es ankommt, bekommt von Heinz Rudolf Kunze unerbittlich eins auf den Finger geklopft. Die Freiheit eines Christenmenschen besteht auch darin, Ja oder Nein zu sagen.
Man muss nicht zu HRK gehen, schon gar nicht am Palmsonntag in die Kirche. Aber man kann. Man muss auch nicht an die Zeitungsüberschrift glauben, sondern eher an einen lebendigen Gott, aber man kann. Man muss den Einzug Jesu in Jerusalem und die Ambivalenz des »Hosianna und kreuzigt ihn« nicht mit »Bockwurst und Schadenfreude« in Verbindung bringen. Aber man kann ...
Immerhin waren es zwei Monate später über 30 000 Besucher des Deutschen Evangelischen Kirchentages, die HRK in großer Besetzung die Ehre gaben, als er den Kirchentagssong »Mehr als dies« vor großer Freilichtbühne zu Gehör brachte:
Wenn dein Kind dich morgen fragt
wozu sind wir auf der Welt
wenn es anfängt sich zu wundern
wenn es wissen will was zählt
Seine Augen sind so groß
wie ein weites Menschenmeer
dann bleib nicht die Antwort schuldig
fällt sie dir auch manchmal schwer
Was man ganz tief drinnen spürt
das kommt nicht von ungefähr
glaub mir denn es existiert
Mehr als dies
mehr als jetzt und mehr als hier
mehr als dies
und mehr als wir (...)
Dann folgte eine von vielen so empfundenen Provokation:
Wenn dein Kind dich morgen fragt
morgen Nacht in deinem Traum
warum hast du dir vorgenommen
niemals Kinder zu bekommen
Glaubst du, daß du alles bist
gib mir Leben gib mir Raum
nichts muß bleiben wie es ist
Hör was dir die Zukunft sagt
In uns scheint ein Licht
das verliern wir nicht
weil es jemand gibt
der uns immer liebt
der fast alles vergibt (...)
Dazu im Originalton die Landesbischöfin der Evangelischen Landeskirche Hannover, Bischöfin Margot Käßmann:
»Warum hast du dir vorgenommen, keine Kinder zu bekommen ...« - das war neben »der fast alles vergibt« die andere Zeile aus Heinz Rudolf Kunzes Kirchentagssong, die für Aufregung sorgte. Empörte Briefe, Mails und Anrufe gab es: »Wird mir da Egoismus vorgeworfen, weil ich keine Kinder habe?«- »Gibt es jetzt einen Kirchen-TÜV nach dem Motto: Nur wer Kinder hat, kommt in den Himmel?« Unter den Reaktionen aber auch tief verletzte Menschen, die sich Kinder gewünscht haben, Frauen, die keinen Partner fanden, Paare, die ungewollt kinderlos sind.
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Die Geschichten der Menschen heute spiegeln sich in den alten Geschichten der Bibel. Denken wir an Hanna, die kinderlos blieb und trauerte. Und als ihr Bitten um ein Kind erhört wurde, da gab sie ihren Samuel Gott zurück, aus Dankbarkeit. Das Ringen um ein Kind war vielleicht ein Ringen um Anerkennung. Aber sie machte sich frei davon, sie kann das Kind als Gottes Kind sehen. Oder Sarah, die lachte, als ihr im hohen Alter ein Kind angekündigt wird. Und deren Sohn Isaak dann den Vater in eine schwere Prüfung führt, weil an ihm die Frage festgemacht wird, ob er Gott vertraut.
Kinder sind ein Geschenk Gottes. Das sagen diese alten Geschichten und die aktuellen Wünsche. Sie sind kein Rentenfaktor und keine ökonomische Bilanz, sondern schlicht ein Segen. Es ist großartig, mit Kindern leben zu dürfen. Aber Kinder dürfen niemals zum Zweck werden. Wenn ich meinen Lebenssinn an Kindern festmache, dann benutze ich sie. Kinder sind auch nicht einfach Objekte meiner Erziehung. Sie sind Subjekte, von denen Erwachsene lernen können: Kreativität zum Beispiel oder einen frischen Blick auf die Wirklichkeit.
Ja, Jesus erklärt sie sogar zu Subjekten der Theologie: »Wer nicht das Reich Gottes annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.«(Lk 18,17) Das finde ich sehr eindrücklich. Von Kindern können wir Gottvertrauen lernen. Weil sie nicht lange abschätzen, nachdenken, einordnen, sondern schlicht vertrauen, so wie sie ihre Hand in die Hand eines Erwachsenen legen. Sicher, Vertrauen kann enttäuscht werden. Und so sind Kinder besonders verletzbar.
Heinz Rudolf Kunzes Liedstrophe ist eine Provokation. Wer sich bewusst gegen Kinder entscheidet, vermeidet Verletzbarkeit, aber auch Leben in der Tiefe. Der oder die bleiben vielleicht stringenter, ihr Leben ist berechenbarer, aber auch ärmer, vermeintlich sicher, aber auch steril, auf merkwürdige Weise ungelebt.
Ohne Kinder können wir manches nicht an uns selbst neu entdecken. Und dieser Vers berührt eben auch die Verletzung derjenigen, die gerne Kinder hätten, aber aus den unterschiedlichsten Gründen keine Kinder haben können. Ihr Schicksal, ihr Schmerz wird meist weggeschwiegen in unserer Gesellschaft. Aber er braucht Raum, Worte oder auch Gebet.
Vielleicht ermutigt der Vers auch so manchen Mann und manche Frau, Ja zu sagen zu ihrem Kind. Denn das ist und bleibt traurig, dass in einem reichen Land wie Deutschland rund 130 000 Kinder pro Jahr abgetrieben werden. Was können wir tun, um werdende Eltern zu ermutigen, Kinder willkommen zu heißen im Leben? Kinder dürfen kein Armutsrisiko sein, aber auch nicht als Spaßbremse gesehen werden. Eine kleine Zeile ... und viele Diskussionen.
Wenn mein Kind mich morgen fragt - dann frage ich es zurück: Weißt du noch, wie du mit sieben Jahren im Jahr 2005 das Lied von HRK auswendig voller Freude mitgesungen hast? Wenn du mich fragst, warum hast du so viel von ihm erzählt, dann werde ich sagen: weil wir damals an Wilden Wässerchen Austern gefischt haben, du weißt ja, das sind die besonderen Muscheln, in die irgendwann einmal ein winziges Schmutzteilchen reingekommen ist. Sicherlich brennt das so, wie wenn wir Sand in die Augen bekommen. Und dann, und dann ganz mit der Zeit, es kann Jahre dauern, umschließt die Auster das Teilchen Schmutz mit viel Liebe und Tränen und Mühe, und es wird eine wunderbare Perle daraus - so eine ist Heinz Rudolf Kunze: in seinen Büchern, in seinen Liedern... In seinen Bühnenauftritten umschließt er liebevoll den Sand im Getriebe unserer Gesellschaft, die Tränen in den unglücklichen Ehen und dumpf vor sich hindösenden Arbeits verhältnissen, die Gemeinheiten unter unserer Sonne und formt daraus viele Schichten einer wunderbaren Perle.
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