Pais stand von seinem Stuhl auf und fasste Haif an seine fellbedeckte Schulter. »Abenteuer werden wir nicht erleben, wenn wir hier bleiben und uns die Bäuche vollschlagen«, sagte er mit einem ungewohnt gutmütigen Lächeln.
»Du hast wohl recht«, sagte Haif wehmütig. »Ich werde diese ruhigen Tage hier vermissen. Und das Essen.«
Ganz besonders das Essen, dachte er ergänzend.
Antilius brannte noch eine Frage auf der Seele, weshalb er als Letzter von seinem Stuhl aufstand und sich dann nach anfänglichem Zögern doch an die Präfektin wandte.
»Eine Frage hätte ich noch«, begann er. »Ihr erzähltet uns soeben von der Wortherkunft des Namens Ilbétha.«
»Ja?«
»Ich frage mich, ob Ihr mir etwas über die Herkunft meines Namens sagen könnt. Wie Ihr bereits wisst, ist Antilius dem Anschein nach nicht mein richtiger Name. Es wurde mir nur geraten, diesen Namen fortan zu verwenden, weil er einzigartig sei. Ich weiß zwar, dass wir jetzt wichtigere Dinge zu erledigen haben, aber es würde mir sehr viel bedeuten, wenn Ihr etwas darüber wisst.«
Die Präfektin nickte verständnisvoll. »Ich wollte es Euch eigentlich unter vier Augen sagen, aber ich kann es auch hier tun, wenn Euch das recht ist.«
»Was meine Person betrifft, so habe ich vor meinen Freunden keine Geheimnisse«, sagte er.
Haif schwoll ein wenig die Brust. Freund , dachte er stolz.
»Der Name Antilius ist, soweit ich das sagen kann, in der Tat einzigartig. Wenn ich mich aber nicht irre, dann steckt in Eurem Namen ein Begriff aus der alten Sprache, der sich eindeutig übersetzen lässt.«
»Welcher?«, fragte Pais, der Antilius zuvorgekommen war, denn so wie alle anderen im Raum war auch er sehr gespannt auf eine Antwort.
»Es gibt nur das Wort Antil, das ich kenne und welches das Einzige ist, das sich aus Ihrem Namen eindeutig ableiten lässt.« Sie machte eine kurze Pause und Antilius bekam ein ungutes Gefühl in der Magengegend.
» Antil bedeutet in der alten Sprache soviel wie ausgestoßen oder vertrieben«, sagte die Präfektin. »Hilft Euch das weiter?«
Antilius schüttelte den Kopf.
Alle machten nachdenkliche Gesichter, nur Gilbert, dessen Spiegel immer noch auf dem Tisch stand, versuchte sich an einer Bemerkung, die an alle gerichtet war. »Merkwürdig, findet ihr nicht? Ich meine, dieser Begriff würde doch eher auf diesen Dunkelträumer passen. Schließlich ist er der Ausgestoßene, aus welchen Gründen auch immer das geschehen sein mag.«
Pais wollte barsch etwas erwidern, unterließ es dann aber, weil er zu dem Schluss kam, dass Gilberts Gedanke alles andere als dumm war.
Die Präfektin wandte sich an Antilius, der über die Bedeutung seines Namens grübelte. »Es ist zu schade, dass Ihr Euch nicht erinnern könnt. Augenscheinlich gibt es eine Verbindung zwischen Euch, dem Dunkelträumer und den außergewöhnlichen Ereignissen.«
»Niemand bedauert meinen Zustand mehr als ich«, sagte Antilius enttäuscht.
»Das sollte keine Kritik sein«, entschuldigte sich die Präfektin. »Ich will damit nur sagen, dass Ihr möglicherweise der Schlüssel seid, um die Bedrohung durch den Dunkelträumer endgültig zu beenden.«
»Und um diese Bedrohung besser zu verstehen«, mischte sich Pais ein, »solltet Ihr uns jetzt zur Stadt der Ahnen führen, Präfektin. Es eilt.«
Alle packten ihre wenigen Habseligkeiten zusammen.
Antilius steckte den Spiegel von Gilbert mit dem Griff an dessen Unterseite in die Brusttasche seines Hemdes. Mit der Spiegelseite nach vorne gerichtet, konnte Gilbert auf diese Weise alles sehen, was Antilius sah. Genauso wie er es zu Beginn seines Abenteuers gemacht hatte.
Dann verließen alle das Gutshaus Richtung Westen des kleinen Eilands.
Ausgestoßener. Antilius wiederholte das Wort immer und immer wieder im Gedanken. Irgendwie passt es zu mir, dachte er.
Mehr als je zuvor zweifelte er daran, jemals wieder vollständig in den Besitz seiner verlorenen Erinnerungen zu kommen.
Seiner Erinnerungen an die Vergangenheit beraubt und daher in Unkenntnis seiner Wurzeln, war er gewissermaßen ein Ausgestoßener.
Antilius, ein Name wie ein Stigma. Er fragte sich, ob er ihn jemals ablegen und durch seinen wahren Namen würde ersetzen können.
»Ist es noch weit?«, wollte Haif wissen, dessen Magen während des Fußmarsches bedenklich laut zu knurren begonnen hatte.
»Bist du etwa schon erschöpft?«, fragte ihn Pais mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen. Sie hatten schon einen Großteil der Strecke zur großen Stadt der Insel der Ahnenländer hinter sich gebracht, aber das wollte er dem Sortaner noch nicht verraten, weil er sein überraschtes Gesicht sehen wollte, wenn er die Stadt der Ahnen erblicken würde.
»Also, eigentlich habe ich ja nichts gegen lange Fußmärsche. Aber mir hat niemand gesagt, dass wir fast die ganze Zeit bergauf gehen müssen«, sagte Haif, wobei er zwischen den beiden Sätzen mehrmals Luft holen musste.
»Nun übertreibe mal nicht. Wir machen hier keine Bergbesteigung«, erwiderte Pais.
Haif blieb stehen, um zu verschnaufen, und Pais tat es ihm gleich. Er konnte sich trotz Haifs Neigung zur Übertreibung gut vorstellen, dass es für den Sortaner mit seinen kurzen Beinen anstrengender war, bergauf zu laufen als für einen Menschen.
Die Präfektin und Antilius waren schon weiter oben auf dem langgestreckten Hang, dessen Neigung zwar wirklich nicht steil, aber auch nicht ohne Kraftanstrengung zu bewältigen war.
»Also ich finde die Steigung schon ziemlich groß«, sagte Haif trotzig. »Und wenn das hier kein Berg und kein Hügel ist, was ist es dann? Der Hang ist mit Gras bewachsen. Überall liegen Steine verstreut. Was ist das hier?«
Pais grinste stolz. »Das hier, mein pelziger Freund, ist kein Berg, sondern ein Vulkan.«
»Wie bitte? Ich höre wohl nicht recht!«
»Keine Sorge. Der Vulkan ist schon seit Jahrmillionen erloschen und längst von der Natur übergrünt. Wir sind hier auf der äußeren Flanke seines Kegels, der am obersten Kraterrand einen Durchmesser von etwa 900 Metern hat.«
Haif sah Pais verwirrt an: »Ja, aber wo ist dann die Stadt der Ahnen?«
»Haif!«, rief Antilius vom Kraterrand herunter, den er soeben mit der Präfektin
erreicht hatte. »Das musst du dir ansehen! Komm schnell!«
Haif warf Pais nochmals einen fragenden Blick zu.
»Geh schon!«, sagte dieser nur.
Jetzt hatte Haif die Neugier gepackt. Schnaufend hechtete er die letzten Meter zum höchsten Punkt des Kraters. Pais folgte ihm voller Vorfreude auf den bevorstehenden Anblick.
Als sie ihn erreicht hatten, verschlug es dem Sortaner den Atem. Sie blickten auf das Innere des kegelförmigen Kraters, dessen Hang innen trichterförmig etwa dreihundert Meter tief reichte. Der gesamte innere Kraterhang war in zwölf künstlich angelegte Terrassen abgestuft. Und jede Terrasse, von der höchsten nur wenige Meter unter ihnen bis zur niedrigsten im Inneren waren, war mit unzähligen verschieden großen Häusern bebaut. Sie waren verstreut zwischen großzügigen Gärten mit Bäumen und Sträuchern, Parkanlagen, Marktplätzen, Feldern und einem gigantischen Aquädukt, dessen fließendes Wasser sich seinen Weg durch unzählige Kanäle, kleinere Becken, künstliche Wasserfälle und imposante Brücken über sämtliche Terrassen bahnte.
Überall waren Menschen zu sehen, die in dem gigantischen Konstrukt so winzig wie Ameisen wirkten.
Ganz unten im Krater hatte sich ein kleiner See gebildet, aus dessen Mitte ein kleiner Lavadom hervorragte, einer Kuppel aus erstarrter Lava. Und auf dieser Kuppel, vom tiefsten Punkt des Kraterinneren, ragte ein säulenförmiger, schmaler Turm empor. Es war der größte Turm, den Antilius, Gilbert und Haif je gesehen hatten. Dreihundert Meter reichte er in die Höhe, sodass seine Zinne etwa auf einer Höhe mit dem oberen Kraterrand lag, auf dem sie sich gerade befanden. Eine filigrane Steinbogenbrücke verband die Turmspitze in der Mitte mit dem äußeren Rand.
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