1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 »So etwas Riesiges habe ich noch nie gesehen!«, rief Haif aufgeregt.
»Niemand, der nicht hier geboren wurde, hat die Stadt der Ahnen je gesehen«, merkte die Präfektin sichtlich stolz an.
»Ich hatte ganz vergessen, wie schön sie ist«, sagte Pais sichtlich gerührt. Nie hätte er gedacht, nach so vielen Jahren wieder hierher zurückzukehren.
Die Gruppe, angeführt von der Präfektin, lief ein Stück auf dem Kraterrand entlang bis zur Steinbrücke.
»Wir werden die Stadt der Ahnen betreten, indem wir über die Brücke und dann durch den Turm im Zentrum nach unten gehen werden. Direkt unter dem Turm in einem unterirdischen Raum unter dem See befindet sich die Pinakothek«, sagte die Präfektin und eilte zügigen Schrittes voran.
Sie überquerten die Brücke. Antilius und Haif drehten ständig ihre Köpfe von der einen zur anderen Seite, so viel gab es zu sehen. Sie wussten gar nicht, wo sie zuerst hinschauen sollten.
»Unglaublich!«, staunte Antilius. »Einfach unglaublich! Wieso wurde die Stadt so aufwendig mitten in einem Krater errichtet, Präfektin?«
»Die Absicht war, die Stadt der Ahnen als eine Art Festung zu bauen. Außerdem kann man trotz der Nähe zum Meer die Stadt hinter dem Vulkankegel von seewärts aus nicht sehen. Da schien dieser Ort hier genau richtig zu sein, um sich vor unerwünschten Blicken zu schützen.«
»Ein gutes Versteck. Ein wirklich gutes Versteck. Die Menschen sind gar nicht so dumm«, sagte Haif anerkennend.
»Na, wenn das von dir kommt, muss das ja ein besonderes Lob sein«, stichelte Gilbert aus seinem Spiegelgefängnis.
»Ja, ja. Mach du nur deine Witze, Gilbert«, sagte Haif verärgert. »Im Gegensatz zu den Menschen und anderen Völkern ist es uns Sortanern immer gelungen, sich aus Schwierigkeiten oder aus kriegerischen Auseinandersetzungen herauszuhalten.«
»Ja, genau. Ihr Sortaner haltet euch doch aus allem heraus, was mit Stress oder Anstrengung zu tun hat«, sagte Gilbert.
»Das ist nicht wahr! Wenn es so wäre, dann wäre ich ja wohl kaum hier.«
»Ausnahmen bestätigen die Regel.«
Haif wollte dieser Frechheit etwas entgegensetzen, aber Pais hielt ihn zurück und sagte zu Haif: »Er kann einem richtig auf die Nerven gehen, nicht wahr? Daran musst du dich gewöhnen. Glaub mir Haif, alles andere schadet deiner Gesundheit. Ich spreche da aus Erfahrung.«
Mittlerweile hatten sie die Turmspitze erreicht. Eine Wache öffnete ihnen eine hölzerne Tür. Sie durchquerten sie und schritten eine unendlich lang scheinende Wendeltreppe hinab. Als sie unten angekommen waren, fanden sie sich im Freien wieder, auf dem Lavadom. Von hier unten sahen die bebauten Terrassen um sie herum noch majestätischer aus als vorher.
Die Präfektin ging bis zum Ufer des kleinen Sees und machte vor einer in den Boden eingelassenen Luke halt. Sie ging in die Knie und klopfte mehrmals dagegen.
»Hinter dieser Luke ist die Pinakothek?«, fragte Antilius.
»Ja, sie liegt viele Meter unter dem See in einer Höhle, die wohl zu aktiven Zeiten des Vulkans auf natürlichem Wege entstanden ist. Die Luftfeuchtigkeit und die Temperatur sind dort konstant. Damit herrschen ideale Bedingungen für die Gemälde«, erklärte die Präfektin.
Die Luke wurde unter lautem Knarzen von innen geöffnet. Eine hagere und ungewöhnlich blasse Gestalt steckte die Nase heraus. Es war ein alter Mann mit schütterem weißen Haar und trüben Augen.
»Ich glaube, der kommt nicht oft an die frische Luft«, flüsterte Gilbert Antilius zu.
»Präfektin!«, sagte er mit brüchiger Stimme. »Ich fühle mich geehrt, Euch hier wieder begrüßen zu dürfen.« Dann entdeckte er die Neuankömmlinge und sah sie irritiert an, wobei er mehrmals die Augen zusammenkniff. »Was sind das für Leute?«
Die Präfektin stellte jeden ihrer Begleiter kurz vor. Antilius als letzten.
»Antilius...«, wiederholte der alte Mann, der sich zuvor knapp als Avest Dremor vorstellte. »Was für ein ungewöhnlicher Name. Äußerst ungewöhnlich.«
»Dürfen wir nun eintreten?«, fragte die Präfektin.
»Gewiss,« sagte Avest und machte Platz für die Besucher.
Haif wollte gleich als zweiter hinter der Präfektin die Stufen hinter der Bodenluke hinabsteigen, als er von Avest zurückgehalten wurde.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Aber ich kann nicht alle hereinlassen. Nur zwei der Fremden dürfen herein. Ihr dürft bestimmen, wer.«
»Avest, ist das jetzt denn wirklich notwendig?«, fragte die Präfektin.
»Es ist mein Verantwortungsbereich. Ich habe in diesem Gewölbe mehr Zeit verbracht als am Tageslicht. Ich möchte nicht, dass etwas zu Schaden kommt. Und zu viele Stimmen könnten die heilige Ruhe dieses Ortes stören.«
»Ist schon gut«, sagte Pais. »Antilius und ich werden gehen.«
»Und ich darf nicht mit? Das ist unfair!«, sagte Haif und machte einen Schmollmund.
»Es ist mir wirklich sehr unangenehm«, entschuldigte sich die Präfektin. »Avest kann manchmal sehr... eigen sein«, sagte sie und warf dem alten Mann einen finsteren Blick zu.
»Also schön, dann bleibe ich eben hier. Mit mir kann man es ja machen.«
»Jetzt stell dich nicht so an, Haif. Lass das mal uns Erwachsene machen«, stichelte wieder Gilbert aus seinem Spiegel.
»Du darfst auch nicht mit, Gilbert«, sagte Pais.
»Was? Wieso das denn?«
»Zu viele Stimmen stören die heilige Ruhe dieses Ortes, schon vergessen? Und wenn eine Stimme diesen Ort stören kann, dann mit absoluter Sicherheit deine.«
»Sehr witzig.«
Antilius nahm den Spiegel aus seiner Brusttasche und gab ihn Haif. »Ich verspreche, dass wir euch alles erzählen werden, wenn wir wieder zurückkommen. Würdest du solange auf Gilberts Spiegel aufpassen?«
Widerwillig nahm Haif den Spiegel und nickte knapp. Dann sah er zu Gilbert hinein. »Komm ja nicht auf die Idee, wieder irgendwas Dummes zu sagen! Ich habe nämlich gerade ziemlich schlechte Laune und möchte mich nicht mit dir unterhalten, verstanden?«
»Das beruht auf Gegenseitigkeit«, sagte Gilbert. »Und pass du auf, dass du mir nicht den Spiegel vollhaarst!«
»Na, wie ich sehe, versteht ihr euch beide ganz prächtig. Bis später dann«, sagte Pais schadenfroh und schob Antilius zur offenen Bodenluke, hinter der sie schließlich beide verschwanden.
Eine lange in den Fels gehauene Treppe führte sie direkt in die unterirdische Pinakothek.
Es war zu dunkel, um die Ausmaße der Höhle zu erfassen.
Die Präfektin, Antilius und Pais blieben am unteren Treppenende stehen und warteten, bis Avest mehrere Öllampen entzündete, die in dem Raum an den Wänden verteilt waren.
Die Höhle mit ihren schwarzen Wänden aus erkaltetem Lavagestein entpuppte sich als nicht besonders groß. Die Wände waren begradigt und abgeschliffen worden, damit die Gemälde ordnungsgemäß aufgehängt werden konnten.
Etwa zwei Dutzend dieser Bilder waren hier. Die meisten waren eher klein und zeigten nur nichtssagende Porträts und Landschaftsaufnahmen, die theoretisch jeden Ort auf Thalantia hätten darstellen können.
Nur zwei Bilder fielen aus der Reihe. Eines zu ihrer Linken hatte eine Größe von etwa vier mal fünf Metern. Das andere war so kolossal, dass es die gesamte rechte Höhlenwand für sich beanspruchte. Antilius schätzte seine Größe auf sechzehn mal acht Meter.
Es war zwar noch immer alles andere als hell, aber es reichte aus, um alle Details auf den Bildern erkennen zu können. Zu viel Licht würde den Werken schaden, meinte Avest.
Die Präfektin ging zum linken kleineren Gemälde. »Würdet Ihr unseren Gästen etwas über dieses Bild erzählen, Avest?«
Der räusperte sich. »Ich weiß, dass ich das nicht erwähnen brauche, aber ich muss darum bitten, auf keinen Fall, ich wiederhole, auf gar keinen Fall eines der Bilder zu berühren. Als sie gefunden wurden, waren nicht wenige in sehr schlechtem Zustand. Insbesondere die beiden großen Gemälde waren beinahe zerstört. Es dauerte Jahrzehnte, sie zu restaurieren.«
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