S. G. Felix
VERLORENEND
Band I
Das Erwachen des Dunkelträumers
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Ankunft mit dem Althan
Truchten
Die fremde Stimme
Der alte Mann und die Station
Die Nacht im Wald und das, was sich im Wald verbarg
Fara-Tindu
Auf dem Wurmhügel
Vergangenheit und Zukunft
Die Splitternden
Streitigkeiten auf dem geheimen Weg
Lügen
Der Mythos vom Transzendenten
Das Flüsternde Buch
Die andere Seite der Schlucht
Sie kommen nachts
Die Späher
Die Strafe der Zeit
Einer fehlt
Stille
Das alte Wesen aus Sand
Die Zugbrücke
Der einsame Mann und die Sterne
Das Rätsel und der Dunkle Tunnel
Das Grauen der Dunkelheit
Das Zeittor
Die Largonen
Pais Ismendahl und die Gorgens
Spiegelbilder
Das Versteck außerhalb der Zeit
Von den Finsteren Ebenen
Vergeltung
Verlorenend
Regeneration und Wiedervereinigung
Kein Plan, keine Armee und kein Mut
Sie antwortet nicht
Der Alte Pfad
Früher Herbst
Das letzte Gespräch
Die Barriere von Valheel
So soll es nicht enden
Die Zeit läuft ab
Die Brücke und die Schlucht
Die Wächter von Valheel
Wer ist Ilbétha?
Der Gegenschlag
Geduld
Das Unvorhersehbare
Das Portal des Transzendenten
Das Portal wird geöffnet
Der Bruchteil
Antilius trifft eine Entscheidung
Das Nichts
Im Licht des Dunkels
Epilog
Antilius stand am Rande des Abgrundes einer Schlucht.
Es war der Inbegriff eines Abgrunds. Die zerklüfteten Steilwände fielen fast senkrecht hunderte Meter in die Tiefe und verloren sich in einem quecksilberartig wabernden Nebel. In diesem Nebel, so war Antilius sich sicher, stoben die Dämonen des Alten Zeitalters umher. Dort unten warteten sie geduldig darauf, dass er sich zu ihnen gesellte. Würde er nur einen Schritt nach vorne wagen, würde er in die Tiefe stürzen.
Ein kalter, feuchter Sturm bahnte sich seinen Weg durch die Schlucht.
Antilius’ Augen ruhten auf einer Gestalt in einem langen schwarzen Mantel, die regungslos auf der anderen Seite der Schlucht stand und ihn anstarrte.
Antilius konnte das Gesicht der Gestalt nicht erkennen. Dort, wo dieses hätte sein müssen, war nur eine graue Masse, ein Dunstschleier, fast genauso wie der Nebel in der Schlucht.
Mann ohne Gesicht. Er ist der Mann ohne Gesicht, der mich verfolgt, dachte Antilius. Er spürte, wie er von ihm angestarrt wurde, auch wenn der Blick des Fremden ihm verborgen blieb.
»Was willst du von mir?«, fragte ihn der Mann ohne Gesicht auf der anderen Seite. Sein Mantel flatterte wild im Sturm.
Antilius wusste es nicht. Er wollte antworten, doch er konnte seine Lippen nicht bewegen. Er bemühte sich, das Gesicht des Fremden zu erkennen. Doch es schwebte nach wie vor nur ein trüber Schleier auf dessen Schultern.
Antilius hatte keine Ahnung, warum er hier war. Er fühlte sich unwirklich. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Körper und Geist waren wie gelähmt. Träumte er?
Der Sturm, der an ihm zerrte, nahm an Intensität zu.
»Wer bist du?«, fragte Antilius. Endlich gelang es ihm nach mehreren erfolglosen Versuchen zu sprechen, auch wenn es ihm schwer fiel.
»Das weißt du doch. Du weißt, wer ich bin. Das Schicksal hat uns zusammengeführt. Es ist immer das Schicksal.«
Das Jaulen des Sturms wurde lauter, und trotzdem konnte Antilius den Fremden problemlos verstehen. Er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu wahren, denn der Sturm zog ihn langsam aber energisch gen Abgrund.
»Hast du keinen Namen?«, rief er hinüber.
»Für dich bin ich der Mann ohne Gesicht«, sagte der Mann ohne Gesicht ruhig und ohne besonders laut zu sprechen.
Antilius versuchte, sich vom Abhang weg zu bewegen, doch seine Beine gehorchten ihm nicht.
»Warum bist du hier?«, wollte der Fremde wissen. »Antworte endlich!«
»Ich weiß nicht, wie ich hierher gekommen bin. Ich weiß nicht einmal genau, wer ich bin«, sagte Antilius unsicher.
»Aber ich weiß es. Ich kenne den Grund. Ich weiß, wer du bist. Und ich weiß, was du vergessen hast. Soll ich es dir verraten, Antilius? Soll ich es tun? Möchtest du es wissen? Es könnte dir aber nicht gefallen. Du musst mich schon darum bitten, wenn du es wissen willst!«
Antilius war verwirrt und schwieg. Seine Gedanken waren vernebelt. So wie dieser Ort hier.
Der Mann ohne Gesicht wartete einen Moment, ehe er sprach: »Wenn du nicht weißt, was du eigentlich willst, dann kehre um!«
Antilius war aber entschlossen, nicht zu gehen. Es war ein unerklärbarer und fester Wille. Nicht umkehren!
»Nein«, sagte er automatisch.
»Kehre um, Antilius! Verfolge nicht meinen Weg! Erspare dir Leid und Kummer. Vergiss alles, was dir einmal etwas bedeutet hat, und vergiss diejenigen, die du geliebt hast. Ich bitte dich, GEH!«
»Ich werde nicht gehen!«
Der Sturm wurde immer heftiger. Wie aus dem Nichts bildete sich plötzlich eine schwere Nebelwolke auf der Seite der Schlucht, auf welcher der Mann ohne Gesicht stand. Die Silhouette des Fremden verlor nun an Kontrast. »Du kannst nicht ermessen, was geschehen wird, wenn du nicht umkehrst. Höre auf mich, Antilius!«, rief er mit einer fast flehenden Stimme.
»Ich werde nicht gehen. Ich kann nicht anders«, rief Antilius zurück, ohne darüber nachzudenken, was er sagte.
Der Mann ohne Gesicht schien noch einen Augenblick nachzudenken. Dann fällte er sein Urteil. »Du Narr! Wenn es soweit ist, dann werde ich dein Schicksal sein«, brüllte er. Seine Konturen verschwanden nun vollends in den Nebelschwaden.
Antilius versuchte, den Fremden wieder aufzuspüren, als er plötzlich einen harten Stoß in den Rücken versetzt bekam.
Panisch ruderte er mit den Armen, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Doch der Stoß war zu stark gewesen. Er sank langsam wie in Zeitlupe vornüber und blickte in den Abgrund. Der Nebel darin war fort. An seine Stelle war ein tiefes Schwarz getreten.
Schwarz wie die Unendlichkeit.
Antilius’ Kopf fuhr herum: Es war der Mann ohne Gesicht.
Er war plötzlich hinter ihm und hatte ihn in den Abgrund gestoßen. Er wollte Antilius loswerden und floh.
Er hat Angst vor dir! Er fürchtet sich vor dem, was in dir verborgen ist.
Antilius konnte ihn nicht mehr verfolgen. Der Abgrund zog ihn in seinen Schlund.
Und während er zwei leuchtende Punkte, die wie Augen aussahen, in dem Schwarz der Tiefe zu erkennen glaubte, überfiel ihn eine bittere Kälte.
Er fiel.
»Ich wollte Sie ganz sicher nicht beleidigen«, versicherte Antilius.
»Ach, nein? Denken Sie, ich bin taub?«
»Weswegen regen Sie sich so auf?«
»Sie haben gesagt, ich hätte da wohl ein kleines Problem. Wobei Sie ‚kleines’ besonders betont haben.«
»Das habe ich nicht.«
»Haben Sie wohl!«
»Nein!«
»Doch!«
»Also gut, vielleicht habe ich es ein wenig betont, aber ich habe damit auf keinen Fall auf Ihre Körpergröße angespielt.«
»Aha! Sie geben es also zu!«, rief der aufgebrachte Sortaner. Sein beigefarbenes Fell, das seinen leicht ovalen und sehr stämmigen Körper gänzlich bedeckte, sträubte sich.
»Ich denke, es hat keinen Sinn, mit Ihnen weiter zu diskutieren«, sagte Antilius genervt.
»Ach! Vorhin hat es Ihnen ja auch nicht an Wortgewandtheit gemangelt, als Sie sich über mich lustig gemacht haben.« Der Sortaner wandte sich mit einem verächtlichen Gesichtsausdruck ab und widmete sich seinem Fernrohr, das er die ganze Zeit über in seinen kleinen plumpen Händen hielt. Er schaute übertrieben konzentriert hindurch. Doch irgendetwas schien nicht in Ordnung zu sein. »Verdammt, dieses Ding ist schon wieder kaputt! Dabei habe ich es gerade erst reparieren lassen«, fluchte das etwa einen Meter große Wesen.
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