Unangenehme Stille folgte.
»Also gut, ich werde dich mit mir nehmen. Mir sind ja ohnehin alle anderen Sachen gestohlen worden.«
Gilberts Gesichtszüge entspannten sich sichtlich. »Wunderbar! Du wirst sehen, ich kann dir eine große Hilfe sein. Und jetzt erzähle mir, was du hier auf Truchten machst. Du bist nicht von hier, stimmt’s?«
»Sieht man mir das denn so deutlich an?«
Gilbert nickte eifrig.
»Ich bin auf der Suche nach einem Sternenbeobachter, namens Brelius Vandanten. Er ließ mir vor einigen Tagen einen Brief zukommen, in dem er andeutete, dass etwas Schreckliches passiert sei. Er bräuchte dringend meine Hilfe und ich sollte mich so schnell wie möglich zu ihm begeben.« Antilius hielt es zu diesem Zeitpunkt noch für ratsam, Gilbert nichts über seinen Gedächtnisverlust und das Wissen von Brelius um diesen zu erzählen. »Er kannte meinen Namen und wusste auch, wo ich wohne. Mir kam die Sache zwar ziemlich merkwürdig vor, aber ich entschloss mich, ihn aufzusuchen. Also packte ich meine Ausrüstung zusammen und reiste hierher. Aber nun ist alles weg, und wo dieser Brelius genau wohnt, weiß ich auch noch nicht.«
Gilbert machte ein nachdenkliches Gesicht. »Brelius Vandanten. Diesen Namen kenne ich in der Tat! Eigentlich kennt ihn fast jeder in Fara-Tindu, denn er war ein recht eigenartiger Mann. Ich habe allerdings lange nichts mehr von ihm gehört. Ich war allerdings auch lange nicht mehr in der Stadt. Aber keine Sorge. Ich kenne jemanden, der uns helfen könnte, ihn zu finden. Sein Name ist Pais Ismendahl. Wenn uns jemand helfen kann, dann er.«
»Na, dann wollen wir keine Zeit verlieren. Ich packe noch schnell das Zelt zusammen, und dann brechen wir auf.«
»In Ordnung, Meister.«
»Gilbert, du musst mich nicht Meister nennen. Antilius reicht völlig aus.«
Ob sich Gilbert daran halten würde, war mehr als fraglich.
Die Fahrt nach Fara-Tindu bot Antilius viel Zeit, sich mit Gilbert zu unterhalten.
»Wen, meintest du, Gilbert, können wir nach dem Aufenthaltsort von Brelius befragen?«
Gilberts Spiegel stand auf einer kleinen Ablage in der Gondel, die durch den endlos scheinenden Wald rauschte.
»Wir sollten zunächst Pais Ismendahl aufsuchen. Er ist einer der wenigen Gelehrten hier. Er stammt aus dem Haus Kellron, welches in den Ahnenländern liegt.«
»Die Ahnenländer? Ich habe gehört, dass es unmöglich sei, die Ahnenländer zu verlassen oder zu betreten.«
»Das ist richtig. Die Ahnenländer sind eine eigene kleine Insel, die einmal ein Teil von Truchten gewesen sein soll. Heute sind die Ahnenländer vom Rest dieser Inselwelt durch eine gigantische Felsschlucht getrennt, die keiner passieren darf – und kann. Um diese Schlucht ranken sich viele Mythen. Die Erde dort soll vergiftet sein. Ein unheimlicher Ort, um den sogar die Wolken am Himmel einen Bogen machen. Pais aber hat es geschafft. Er floh.«
»Warum?«, wollte Antilius wissen.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht wollte er einfach nur nicht länger auf der Insel eingesperrt sein und rauskommen.«
Gilbert pausierte kurz und Antilius glaubte, durch den Spiegel einen Schatten auf Gilberts Gesicht sehen zu können, der ihm sagte, dass Gilbert gerade an etwas anderes dachte, vielleicht an eine andere Version der Geschichte von Pais Ismendahl.
Kurz darauf erreichten die beiden das alte Stadttor von Fara-Tindu. Früher hatte ein schweres gusseisernes Gitter herabgelassen werden können, sodass die Stadt ungebetene Besucher fernhalten konnte.
Eingerahmt war das Tor von zwei verfallenen Wachtürmen, die je auf einem Steinsockel gebaut waren. Das Holz, aus denen sie bestanden, war allerdings schon ziemlich morsch, obwohl es sich auch um das Jahrhunderte überdauernde Immerfestholz handelte. Antilius folgerte aus seinen Beobachtungen, dass Fara-Tindu in der Vergangenheit eine riesige Festung gewesen sein musste oder ein andersartiger strategisch wichtiger Ort.
»Hat hier ein Krieg stattgefunden?«, fragte Antilius, während sich die Amedium-Gondel dem offenen Tor näherte.
»Es war der Ort, an dem der lange und so genannte Fünf-Königs-Krieg beendet wurde. Ein jahrelanger Krieg. Aber das ist schon ziemlich lange her. So genau weiß ich es auch nicht. Aber wer weiß schon wirklich etwas Genaues über den Königs-Krieg?«
»Also deshalb gleicht die ganze Stadt eher einer Festung.«
»Ja. Die gesamte Stadt ist von einer Steinmauer umgeben, die allerdings schon halb zerfallen ist, weil ihre Architekten damals unter dem extremen Zeitdruck schlampig gearbeitet haben.«
So abstoßend Antilius das äußere Gesicht der Stadt empfand, so überrascht war er, als sich ihm ihr idyllisches Innere präsentierte.
Die Gondel durchquerte langsam eine lange Gasse, deren Seiten spielerisch gebaute Fachwerkhäuser säumten. Zahlreiche Händler boten ihre Waren am Straßenrand an. Gemüse, Obst, Bier, Kleidung, Schmuck - alles Mögliche wurde verkauft. Kaufwillige gab es genug. Es herrschte reger Betrieb.
Antilius konnte in dem Gewimmel Menschen ausmachen, und er erkannte viele Sortaner, die Haif zum Verwechseln ähnlich sahen. Doch es gab noch andere Spezies, die Antilius noch nie zuvor gesehen hatte. Manche sahen aus wie ein wandelndes Stück Holz, andere eher wie entfernte Verwandte von Vögeln, wieder andere so wie er, nur mit kleinen Unterschieden wie zum Beispiel grünlicher Haut.
Die Tatsache, dass hier derart viele unterschiedliche Wesen dicht gedrängt nebeneinander lebten, erschreckte ihn ein wenig. In seiner Heimat gab es nichts Vergleichbares. Andere Wesen kannte man dort vornehmlich aus Büchern oder von Geschichten. Truchten war in dieser Hinsicht einzigartig.
Der anfängliche Schreck wurde aber schnell durch die aufsteigende Faszination verdrängt.
Die Gondel verlangsamte ihre Geschwindigkeit und parkte in einem Gondelstellplatz, der sich in einem kleinen Hof befand, mitten zwischen den Häusern. Obwohl die rostfreie Amedium-Bahn schon hunderte Jahre alt war und auch sehr lange Zeit wohl nicht mehr verwendet wurde, hatte niemand in dieser Zeit die Schienen, die in die Stadt führten, demontiert.
Antilius sprang aus seinem Gefährt und lugte noch etwas verunsichert um die Ecke, um das Treiben auf der Verkaufsstraße zu beobachten.
»He! Würdest du mich vielleicht mitnehmen? Ich habe keine Lust, hier alleine zu bleiben und auf den Nächsten zu warten, der meinen Spiegel raubt!« Gilbert schrie so laut, dass einige Passanten stehen blieben und verwundert zur Gondel herüberschauten.
»Ja, ja. Ich habe dich nicht vergessen«, grummelte Antilius zurück. »Kein Grund, hier so herumzubrüllen.«
Antilius nahm den Spiegel aus der Gondel und steckte ihn sich kurzentschlossen in die Hosentasche.
»Halt! Stopp! Was machst du denn da?«, protestierte Gilbert.
Antilius hielt in seiner Bewegung inne. »Was ist jetzt schon wieder nicht in Ordnung?«
»Du kannst mich doch nicht so einfach wegstecken. Ich will auch sehen, was du siehst! So kann ich dir doch nicht helfen !«
Antilius zog den Spiegel wieder aus der Tasche und grübelte, wie er Gilberts Wunsch am besten nachkommen konnte. Dann schaute er auf seinen Gürtel herab und hatte eine Idee. Er steckte einfach den Spiegel mit seinem Griff nach unten in seinen Gürtel, sodass Gilbert nun nichts mehr entgehen konnte und er einen komfortablen Ausblick genießen konnte, wenn auch nicht auf Augenhöhe.
»Ja. So ist es schon viel besser«, bestätigte er.
»Also, wo müssen wir jetzt hin?«, fragte Antilius ungeduldig.
»Um diese Uhrzeit speist Pais für gewöhnlich im Wirtshaus Goldtrank. Es ist das einzige Wirtshaus, das seine Leibspeise zubereiten kann: rohen Tintenfisch! Er wird extra für ihn von der Küste hierher geliefert.«
»Köstlich«, murmelte Antilius angeekelt.
Читать дальше