1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 Inmitten des dichten Rotes der Dächer ragten drei Turmspitzen einer Abtei hervor.
»Und? Ist das nicht ein umwerfender Anblick?«, schwärmte Pais, der über Antilius’ Faszination erfreut war.
»Es ist sehr beeindruckend. Jetzt verstehe ich, warum Brelius diesen Ort für sein Heim und seine Arbeit gewählt hat.«
Pais wandte sich dem einzigen Häuschen auf dem Hügel zu. Es war eher eine einfache Blockhütte, die im Dach eine aufklappbare Luke hatte, welche beim Öffnen die Sicht auf den Himmel für das darin befindliche Teleskop freigeben konnte. Eine schlichte, aber effiziente Lösung.
Das muss ich mir auch in mein Dach einbauen, dachte Antilius.
Pais öffnete die Tür, welche quietschend nachgab. Zu Antilius’ Überraschung besaß sie kein Schloss. Anscheinend fürchtete Brelius nicht, dass ihm irgendetwas gestohlen werden könnte.
Das Innere der Hütte präsentierte sich ebenso bescheiden wie das Äußere. Den engen Raum teilten sich ein einfaches Bett sowie eine relativ große Werkbank, die fast die Hälfte der Wohnfläche in Anspruch nahm. Sie war übersät mit Schriftrollen, Bergen von Papieren, Werkzeugen unterschiedlichster Art, zwei kleinen Mikroskopen, Karten vom Sternenhimmel und dutzenden Linsen für das für einen Sternenbeobachter unverzichtbare Teleskop, welches gleich neben der Bank aufgebaut war. Das Ende des Rohres zeigte zur Dachluke. Sie war geschlossen.
Pais runzelte die Stirn. »Hmm. Er hat alles genauso gelassen, wie es vorher war: unordentlich. Obwohl es noch chaotischer ausgesehen hat, als ich das letzte Mal hier war. Vielleicht finden wir auf seiner Werkbank einen Hinweis.«
»Für mich sieht es so aus, als ob seine Sachen hier durchwühlt worden sind«, sagte Gilbert.
Pais brummte nur nachdenklich. »Das könnte man vermuten.«
Nach einer Weile des Suchens fand Antilius einen blau schimmernden Kristall. Nach kurzer Begutachtung stellte Pais fest, dass es sich um einen Stimmenkristall handelte. Diese Art von Kristallen waren geeignet, Töne oder auch Stimmen in sich zu speichern, sodass man damit Nachrichten aufzeichnen konnte.
»Das muss es sein«, sagte Pais.
»Was ist das?«
»Das ist sein Tagebuch. Ja, ich erinnere mich! Vor einiger Zeit hat er mir erzählt, er hätte sich einen dieser sündhaft teuren Stimmenkristalle gekauft, um ein Tagebuch zu führen. Er hat mir aber nicht gesagt, warum.«
»Wieso hat er nicht einfach Tinte und Papier benutzt?«, warf Gilbert ein.
»Brelius war eben anders als die anderen. Ein normales Tagebuch wäre für ihn ... zu normal gewesen.«
Pais schlug leicht mit dem Handrücken gegen den Kristall, denn er wusste, dass der Kristall so aktiviert werden musste. Nichts jedoch geschah. Er versuchte es noch einmal. Vergeblich. »Hmm. Er lässt sich nicht aktivieren.«
»Wahrscheinlich ist er kaputt«, sagte Antilius.
»Das glaube ich nicht. Brelius hätte niemals irgendwelchen Ramsch gekauft. Vielleicht muss man die Sache anders angehen.«
Pais nahm den Kristall, umschloss ihn mit beiden Händen und schlug ihn mehrmals auf die Tischkante, sodass einige Gegenstände und Schriftrollen herunter purzelten, darunter auch eine der Linsen, die in vier gleichgroße Scherben zerbrach. Ein leises Pfeifen ertönte. Dann veränderte sich der Kristall, und eine männliche Stimme erklang. Zunächst war sie noch verzerrt und etwas abgehackt und klang nach nichts Menschlichem. Aber dann wurde sie klarer.
»Na bitte! Geht doch«, triumphierte Pais.
Antilius, Pais Ismendahl und auch Gilbert hörten gespannt der Stimme von Brelius Vandanten aus dem Kristall zu:
» Datum: 21. Phlogiston.
Die letzte Nacht habe ich wie so viele zuvor durchgearbeitet. Meine Begeisterung und meine Leidenschaft für dieses Projekt lassen aber meine Konzentration nicht schwinden.
Ich muss mir selbst eingestehen, dass ich mich in letzter Zeit selbst überfordert habe. Ich werde mir erst einmal ein paar Tage Ruhe gönnen und danach entscheiden, wie ich weiter verfahre.«
»68. Phlogiston.
Ach, ich kann an nichts anderes mehr denken! Dieses Ding schwirrt mir Tag und Nacht durch den Kopf. Dieser dumme Stein! Verflucht ist er! Ja, verflucht! Hätte ich ihn doch nur nie in die Hände gekriegt.
Doch ich will von vorne beginnen: Ich habe schon fast wieder vergessen, dass ich dieses Tagebuch nicht für mich aufzeichne. Ich werde alles erklären, was bisher geschehen ist.
Lange Zeit habe ich gebraucht, um es zu analysieren und zu verstehen. Das AVIONIUM. So habe ich es genannt. Es handelt sich dabei um ein Gestein, welches nur im Adler-Gebirge vorkommt, also auf der anderen Seite der Schlucht in den Ahnenländern.
Ich habe diesen blau schimmernden Wunderstein einem alten Mann abgekauft. Er war Händler und sagte mir mit verschwörerischem Blick, dass dieser Stein verhext sei und merkwürdige Eigenschaften habe. Der Stein solle schweben können, nachts, wenn man schläft und nichts davon merkt. Und böses Unheil könne er anrichten und alte Geister beschwören. Niemand wollte deshalb angeblich diesen Stein haben. Genau das weckte meine Neugier, rief aber auch Skepsis in mir hervor – schließlich bin ich Wissenschaftler. Ich fragte ihn, woher er ihn habe, denn ich wusste, dass es keinen Weg zu dem Gebirge gibt, aus dem dieser Stein stammt. Es gibt keine Brücke, die über die riesige Schlucht führt. Die andere Seite wird zudem seit dem Königs-Krieg schwer bewacht. Auch vom Meer her kommt man nicht in die Ahnenländer. Jeder, der es wagte, sich mit einem Boot, egal wie groß oder wie stark es gebaut war, der Küste der Ahnenländer zu nähern, bezahlte es mit seinem Leben. So jedenfalls erzählen es unzählige Geschichten. Keiner hat sich deshalb in den letzten Jahrzehnten getraut, dieses Gebiet zu betreten. Doch der alte Mann erklärte mir nur schroff, dass er ihn von seinem Vater habe, der schon vor mehr als 40 Jahren starb. Und dieser habe ihn ebenfalls von seinem Vater vererbt bekommen. Obwohl es sich um ein Erbstück mit ideellem Werte handele, so der Händler, sei er gezwungen, den Stein zu verkaufen.
Ich nahm den Stein mit nach Hause und untersuchte ihn genauer.
Ein paar Tage später fiel mir zufällig etwas Merkwürdiges auf: Ich verglich das Gewicht des Steins mit ein paar anderen Gesteinsproben. Ungläubig stellte ich fest, dass das Gewicht eines anderen Steines, den ich in der Verlassenen Wüste gefunden hatte, schwankte. Ich dachte zuerst, meine teure Waage hätte einen Defekt. Ich kaufte mir sogar eine neue, aber das Gewicht schwankte immer noch. Mal war er leichter, mal schwerer. Unmöglich! Dann enträtselte ich die Ursache. Beiläufig schob ich während der Messungen den neben der Waage liegenden Avionium-Stein beiseite, worauf sich das Gewicht des Wüsten-Steins schlagartig erhöhte. Ich schob das Avionium wieder näher an die Waage heran und der Wüsten-Stein wurde leichter. Ich habe den Versuch mit allen anderen möglichen Gegenständen durchgeführt, alle mit demselben Ergebnis: Das Avionium war imstande, das Gewicht von Gegenständen in seiner näheren Umgebung zu verringern. Eine fantastische Entdeckung! Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gesehen.
Allmählich wurde mir klar, welche Möglichkeiten sich durch diese Entdeckung ergaben. Würde man mehr von dem Avionium verwenden, könnte man damit schwere Lasten leichter transportieren. Meine Gedanken überschlugen sich. Unzählige Einsatzbereiche schwirrten mir durch den Kopf. Unzählige Erfindungen, die ich damit machen könnte.
Trotz meiner Euphorie ließ ich mich nicht von meiner Dummheit übermannen. War dies alles vielleicht nur ein Schwindel? Hatte ich bei meinen Untersuchungen einen Fehler gemacht? Ich musste Sicherheit haben, und so wiederholte ich meine Untersuchungen zwei Tage und zwei Nächte lang. Meine ersten Messungen bestätigten sich jedoch, sodass meine Zweifel beiseite geräumt wurden.
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