»3. Terranus.
Ich hatte heute Nacht einen Traum. Einen Alptraum. Es war sehr merkwürdig. Er war so real.
Ich stand an einem Abgrund, an der Schlucht, die an die Ahnenländer grenzt. Ich schaute hinunter in die Tiefe. Plötzlich ertönte hinter mir eine Stimme, die sagte, ich solle nach Süden gehen. Immer wieder wiederholte sie: ‚Gehe nach Süden!’
Im Traum wollte ich antworten. Ich wollte sagen, dass ich nicht nach Süden gehen will. Ich habe Angst davor, ohne zu wissen, warum, doch ich konnte nicht sprechen.
‚Gehe nach Süden!’, befahl mir die Stimme, doch ich konnte nicht antworten. Ich hatte unerklärliche Angst davor. Ich versuchte zu schreien, aber ich blieb stumm.
‚Gehe nach Süden!’, schrie die Stimme. Ich geriet in Panik. Ich war unfähig zu antworten. Und dann, dann sprang ich. Ich sprang in die Tiefe. Ich hatte solche Angst davor, dem Befehl der Stimme zu folgen, dass ich mich lieber in die Tiefe stürzte.
Schweißgebadet wachte ich auf. Was war das nur für ein schrecklicher Traum? Nein, es war mehr als das. Was hatte das zu bedeuten? Hoffentlich träume ich ihn heute Nacht nicht wieder.«
Als Antilius der brüchigen Stimme von Brelius zuhörte, die vom dritten Terranus dieses Jahres stammte, lief ihm langsam ein eiskalter Schauer über den Rücken. Die Schlucht. Es war dieselbe Schlucht, von der auch Antilius vorletzte Nacht geträumt hatte. Er war sich dessen absolut sicher, auch wenn Brelius die Schlucht aus seinem Traum nicht näher beschrieben hatte. Und die Stimme. Die Stimme, die Brelius befohlen hatte, nach Süden zu gehen. War es dieselbe, die Antilius ermahnte umzukehren?
»Es ist dieselbe Stimme«, flüsterte Antilius so leise, dass Pais und Gilbert es nicht hören konnten.
Mit zugeschnürter Kehle hörte er sich den Rest des Tagebuchs an, das im Kristall aufbewahrt war.
»6. Terranus.
Ich zittere am ganzen Leib! Vier Nächte hintereinander derselbe Alptraum. Das kann kein Zufall sein. Was geschieht nur mit mir? Werde ich jetzt verrückt?
Ich fürchte mich.
Ich wollte es mir zwar bis jetzt nicht eingestehen. Aber sollte dieser Traum vielleicht ein Hinweis darauf sein, wo ich das Tor finden könnte? Im Süden von Truchten? Oder verliere ich einfach nur meinen Verstand?«
»10.Terranus.
Ich schlafe kaum noch. Und wenn ich einen Moment einnicke, dann beginnt der gleiche Alptraum, wieder und wieder. Und immer mehr verspüre ich den Drang, mein Heim zu verlassen und zu gehen. Nach Süden zu gehen. Ich weiß nicht wohin, einfach nach Süden, so wie es diese entsetzliche Stimme mir befiehlt. Sie bohrt sich in meinen Kopf und drängt mich, nach Süden zu gehen. Ich bin schon zu einem Heiler gegangen. Dieser Taugenichts meinte nur höhnisch, dass ich überarbeitet sei. Ha! Ich bin nicht verrückt! Nein, ich bin nicht verrückt.«
»11. Terranus.
Ich halte es nicht mehr aus! Es ist, als ob tausend heiße Nadeln im meinem Kopf sind. Deswegen habe ich einen Entschluss gefasst: Ich werde reisen. Ich gehe nach Süden. Ich habe keine Ahnung, was mein Ziel sein soll, aber ich fühle, dass ich es tun muss, sonst werde ich endgültig wahnsinnig. Ich muss nur noch eine Sache erledigen, dann breche ich auf.«
»Datum unbekannt. Früher Abend.
Wie lange bin ich jetzt schon unterwegs? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal mehr genau, wo ich bin. Ich habe das Gefühl, dass ich ständig beobachtet werde. Seit meine Reise begonnen hat, haben die Träume wenigstens aufgehört. Aber der Drang weiterzugehen, nach Süden zu gehen, wird immer stärker. Irgendetwas treibt mich.Und irgendjemand lenkt mich. Manchmal höre ich tagsüber eine Stimme in meinem Kopf, die mir sagt, ich solle mich beeilen. Sie peitscht mich vorwärts. Es ist schrecklich. Ich bin nicht mehr ich selbst. Ich habe keine Kontrolle mehr über mich. Meine Gedanken schwirren unkontrolliert in meinem schmerzenden Kopf herum. Manchmal habe ich Blackouts, die sich über viele Stunden erstrecken. Ich wandere zu einem Ziel, das ich nicht kenne.
Die fremde Stimme beherrscht und verhöhnt mich.
Ich bin eine Marionette.
Ich bin verflucht.«
»36. Terranus.
Ich weiß nicht, wieso, aber ich glaube, dass ich mein Ziel erreicht habe. Ich bin in einer Stadt, die von hünenhaften Wesen bewohnt gewesen sein muss. Ich weiß zwar, dass ich noch nie hier gewesen bin, und dass ich noch niemals von diesem Ort gehört habe, aber ich scheine mich hier auszukennen. Es ist nicht mehr weit, sagt mir die fremde Stimme. Ich bin fast da. Was wird mich erwarten? Wieso kann ich mich nicht wehren? Ich bin schwach.
Ich stehe jetzt davor. Träume ich? Nein, es ruht direkt vor mir und flößt mir Angst ein. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich in dieses unterirdische Verlies gekommen bin. Ich habe aber das Gefühl, dass ich fast ertrunken wäre. Wahrscheinlich will die fremde Stimme nicht, dass ich mich erinnere, wie ich hierher gekommen bin. Das erklärt die vielen Blackouts, die ich in den letzten Tagen hatte.
Es ist das Zeittor. Ich stehe davor, in einer unterirdischen Kammer. Es ist ganz warm. Es zieht mich an. Es will, dass ich es benutze. Jahrhundertelang harrte es hier im Dunkeln aus und hat nur darauf gewartet, dass es jemand findet. Dass ich es finde. Ich versuche, mich zu wehren. Ich möchte fliehen, aber die fremde Stimme in meinem Kopf ist stärker als ich.
Es frisst mich auf. Ich werde es mit dem Avionium aktivieren, das ich die ganze Zeit bei mir trage und hindurch gehen. Ob ich will oder nicht, ich kann nichts dagegen unternehmen. Die Stimme wird mir sagen, was ich tun muss. Sie befiehlt über mich.
Noch vor kurzem war es mein größter Wunsch, es zu finden. Ich hätte mich vor Freude überschlagen. Doch jetzt möchte ich diesen Ort am liebsten verlassen. Ein jahrhundertealtes Verbot soll ich brechen. Irgendetwas, das mächtiger ist als ich selbst, befiehlt mir, es zu benutzen. Ich bin das Opfer eines niederträchtigen Spiels.
Ich werde gezwungen, durch das Zeittor zu gehen. Ich weiß, dass es falsch ist. Ich ahne, dass ich großes Unheil heraufbeschwören werde, wenn ich das Zeittor benutze. Und trotzdem muss ich es tun. Ich kann mich nicht wehren. Denn, wenn ich es nicht mache, verliere ich unwiederbringlich meinen Verstand.
Mögen mir die Ahnen vergeben.«
»38. Terranus.
Wie ein böser Traum sind mir die letzten Tage in Erinnerung. Ich bin jetzt wieder daheim. Erschöpft und ausgelaugt.
Ich erinnere mich nur noch daran, wie ich durch das Tor schritt. Dann verlor ich das Bewusstsein.
Schließlich fand ich mich hier wieder. In meinem Zuhause. Ich habe meinen Mondchronometer geprüft und festgestellt, dass zwischen meinem Eintritt in das Zeittor und meinem Erwachen nur zwei Tage vergangen sind. Unmöglich, dass ich die ganze Strecke zurück zu Fuß gegangen bin.
Was nach meinem Eintritt in das Zeittor geschehen ist, kann ich nur vermuten. Die Tatsache, dass ich den Weg von dem Ort, an dem ich das Zeittor auffand, und meinem Zuhause in nur zwei Tagen zurücklegte, kann ich mir nicht erklären.
Wenn ich mich doch nur entsinnen könnte!
Ein Gutes hat die Sache jedenfalls. Dieses Gefühl, von einer fremden Macht beherrscht zu sein, ist verschwunden. Ebenso der Drang, irgendetwas tun zu müssen oder Dinge zu wissen, von denen ich zuvor nicht die leiseste Ahnung hatte.
Seit ich wieder in meinen vertrauten vier Wänden sitze, fühle ich, wie sich die Anspannung löst. Alles scheint normal zu sein, so wie vorher, als wäre nichts geschehen. Eine trügerische Ruhe?
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