»Wohl kaum verrückter als du «, verteidigte Pais seinen verschwundenen Freund.
»Ja klar, nimm ihn ruhig in Schutz, den alten Saufbold. Ja, Antilius, bevor du dir über irgendetwas Sorgen machst, solltest du wissen, dass Pais und Brelius, wenn sie sich nicht gerade mit ihren Glühwürmern bespielten, mit der Flasche gespielt haben. Und zwar so lange, bis sie sturzbetrunken waren und dann in ihrem Rausch die wildesten Fantasien entwickelt haben.«
Pais lief rot an: »Du kleiner widerlicher ...«
»Das interessiert mich ehrlich gesagt nicht«, unterbrach ihn Antilius. Pais ballte die Fäuste und starrte Gilbert mit hasserfülltem Blick an.
»Ob er nun getrunken hat oder nicht, tut, denke ich, hier nichts zur Sache. Mich würde eher interessieren, woher er meinen Namen kennt. Ich komme aus einem sehr kleinen Dorf. Und dieses Dorf liegt nicht mal auf dieser Inselwelt. Es ist eigentlich unmöglich, dass er mich kennt. Niemand auf Truchten kennt mich.«
Doch, es ist möglich. Brelius hat auch von ihm geträumt, von dem Mann ohne Gesicht. Er hat auch von der Schlucht geträumt, so wie du. Soll das ein Zufall gewesen sein? Nein, das war es nicht. Also kann er auch deinen Namen im Traum gehört haben. Wieso soll das nicht möglich sein?«, sagte eine Stimme in Antilius’ Kopf, die seine eigene war.
Pais bemerkte, dass sich Antilius Sorgen machte. Er wollte gerade etwas zu seiner Beruhigung sagen, aber dann ließ er noch einmal die ominöse Botschaft von Brelius in seinem Kopf Revue passieren und bemerkte, dass er selbst ein wenig Angst verspürte. »Ich fürchte, Brelius hat den Verstand verloren«, war das Resümee seiner Überlegungen.
»Wir müssen ihn suchen. Wir müssen dieser Sache nachgehen«, sagte Antilius tonlos.
»Wir wissen doch überhaupt nicht, wo er hingegangen ist«, erwiderte Gilbert.
»Süden. Er erzählte etwas von einer Stadt, die von großen Wesen bewohnt gewesen sein soll. Vielleicht meinte er damit die Largonen? Sie sind sehr groß«, gab Pais zurück.
»Spekulieren hilft jetzt nichts. Die Ebenen im Süden sind sehr weitläufig, soweit ich weiß. Nein, wir werden das tun, was er gesagt hat. Wir suchen seine Tochter auf. Ich nehme an, du weißt, wo sie wohnt?«, fragte Antilius.
Pais nickte geistesabwesend.
»Bist du in Ordnung?«, fragte Antilius mehr genervt als besorgt, denn eigentlich sollte er derjenige sein, der vor Schreck geistesabwesend war.
»Was? Ja, ja. Ich dachte nur gerade an die Zeit, als Brelius und ich die Glühwürmer dressiert hatten.« Pais hielt inne und wurde plötzlich kreidebleich. »Du meine Güte! Die Glühwürmchen!«
Während er diese Worte fast theatralisch ausstieß, fasste er sich an seine Stirn, wirbelte herum und stürmte aus dem Zimmer. Danach sah Antilius ihn nur noch draußen an einem der beiden Fenster vorbei hechten.
»Was ist denn nun los?«, fragte er und schaute nach einer Antwort suchend Gilbert im Spiegel an. Der rollte nur mit den Augen und machte eine wegwerfende Geste. Nach einem kurzen Augenblick der Verwirrung entschloss sich Antilius, dem Bärtigen zu folgen.
Schon kurz bevor er sich der Hinterseite der einfachen Hütte näherte, hörte er Pais in einer für ihn lächerlichen Art und Weise sprechen. »Hab ich euch ganz vergessen? Hattet ihr auch keine Angst? Jetzt bin ich ja für euch da. Jetzt braucht ihr keine Angst mehr zu haben.«
Ein sonderlicher Anblick bot sich Antilius und Gilbert. Pais saß im Schneidersitz auf der Erde und liebkoste mit seinen Händen zwei etwa hühnereigroße Käfer, die selbst bei der mittlerweile herabscheinenden Abendsonne noch ein fluoreszierendes gelb-grünes Licht von sich gaben.
»Ach, was für ein göttliches Bild! Der alte Pais wieder vereint mit seinen Liebsten. Seinen Würmern«, spottete Gilbert. Er konnte es nicht lassen.
»Es sind keine Würmer, sondern Käfer!«, grunzte der Beleidigte zurück, ohne die Streicheleinheiten für die kleinen stummen Tierchen zu unterbrechen.
»Ach, und warum heißen sie dann Glühwürmer?«
»Lies es doch nach, du hohle Birne!«
Gilbert wollte zum verbalen Gegenschlag ausholen, wurde jedoch von Antilius daran gehindert, indem er den Spiegel kopfüber drehte und in seiner Hosentasche verschwinden ließ.
»He!«, beschwerte sich Gilbert und verstummte daraufhin beleidigt.
»Tu uns bitte einen Gefallen und wirf diesen verfluchten Spiegel in den Fluss. Erlöse uns von diesem Quälgeist«, stöhnte Pais genervt.
»Du wirst dich daran gewöhnen müssen«, erwiderte Antilius.
Pais hörte schon gar nicht mehr zu, sonst wäre er wohl gleich wieder in Rage geraten. Stattdessen widmete er sich wieder den Riesen-Glühwürmern. »Ich habe fast vergessen, wie schön sie sind!«, schnurrte er verträumt.
»Ich dachte, du und Brelius, ihr habt gemeinsam diese Zucht betrieben?«
»Ja, aber kurz bevor er seine erste Tagebuchaufzeichnung machte, hatten wir einen kleinen Disput. Ich habe eine Reise gemacht, und so haben wir uns irgendwie aus den Augen verloren. Wäre ich nicht so dumm gewesen und gekränkt von dannen gezogen, dann hätte ich ihn vielleicht wieder zur Vernunft bringen können.«
Antilius sog die kühle, trockene Abendluft ein.
»Das ist jetzt nicht mehr rückgängig zu machen. Ich möchte, wenn es möglich ist, noch heute mit der Tochter dieses Mannes sprechen.«
»Ich würde gern noch einen Moment hier bleiben, wenn es dir nichts ausmacht. Sie wohnt in der Dichtergilde, gleich drei Häuser hinter der Taverne, in der wir uns heute Mittag getroffen haben.« Pais wirkte auf einmal so ungewöhnlich sanft. Diese Tiere mussten ihm wirklich viel bedeuten.
»Also gut. Ich werde allein gehen. Wir treffen uns dann wieder hier. Einverstanden?«
»Gut. Aber ...«
»Was?«
»Vergewissere dich, dass du den Spiegel nicht vergisst.«
Antilius verließ ihn und schritt entschlossen dem Meer der kleinen Häuser und der dahinter untergehenden blutroten Abendsonne entgegen.
Er war sich absolut sicher, dass Brelius und er von demselben Mann in ihren Träumen heimgesucht wurden. Er glaubte an das, was Brelius in seinem Tagebuch berichtet hatte. Das Zeittor existierte wirklich und stellte eine Bedrohung für Thalantia dar.
Etwas Unheimliches braute sich hier zusammen.
Vergangenheit und Zukunft
Während Antilius Gilberts Richtungsanweisungen folgte - den Spiegel hatte er mittlerweile in seine Brusttasche verlegt - und durch die zahllosen verwinkelten Gassen von Fara-Tindu wanderte, war er mit seinen Gedanken weit weg von diesem Ort. Er war bei sich zu Hause, als er noch ein Kind war. Wo immer dies auch gewesen sein mochte, er konnte sich nicht erinnern. Nur einzelne Bruchstücke seiner Kindheit waren noch in seinem Gedächtnis.
Das Fischen hatte ihm besondere Freude bereitet. Er hatte noch ein Bild vor Augen, wie er als kleiner Junge manchmal den ganzen Tag damit zugebracht hatte. Es war auch heute noch für ihn nahezu die einzige Möglichkeit, sich richtig zu entspannen.
Nicht ganz die einzige. Die Sterne. Schon seit seiner Kindheit war er von ihnen fasziniert. Unzählige Nächte hatte er sich als kleiner Junge nach draußen ins Freie geschlichen, hatte sich auf die Wiese vor seinem Zimmer gelegt und in den endlosen schwarzen Nachthimmel mit seinen vielen kleinen Kristallpunkten geschaut, die zu ihm hinunter gestrahlt hatten. Er war, sogar wenn er heute noch als Erwachsener dieses Ritual durchführte, in der Lage, sein Zeitgefühl völlig zu verlieren. Wie paralysiert lag er stundenlang auf seinem Rücken, unter sich die kühle feuchte Erde. Der Gedanke, dass sich dort oben in diesem beängstigenden und zugleich faszinierenden Nichts noch andere Welten um eine Sonne drehten, die vielleicht fast genauso aussahen wie diese hier, ließ ihn wohlig schaudern.
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