»Und was ist mit den Largonen? Sie werden bestimmt nicht einfach zugesehen haben, wie sich jemand des Zeittores bemächtigt, wenn sie es doch beschützen wollen«, fragte wieder Gilbert.
»Es gibt hierbei noch viele unbeantwortete Fragen. Aber mich beunruhigt noch eine ganz andere Sache«, begann Telscha mit einem niedergeschlagenen Gesichtsausdruck.
»Mein Vater maß dem Fremden, der das Tor zu seinen Zwecken missbrauchen will, zwar große Bedeutung bei. Aber da gab es noch etwas anderes. Etwas Größeres, Unheimlicheres, das ihm Angst machte.«
»Was meint Ihr?«
»Ich bin mir nicht sicher, aber mit diesem Tor scheint eine andere Bedrohung erwacht zu sein. Eine, die auf der anderen Seite dieses Tores schläft und nun erwacht ist oder dabei ist zu erwachen. Etwas unvorstellbar Böses wird über dieses Land ziehen. Das hat mein Vater gesagt.«
»Vielleicht meinte er aber auch diesen Koros?«, mutmaßte Antilius. Er hoffte es, aber irgendwie fühlte er, dass Koros nicht das einzige Problem sein würde.
»Das glaube ich nicht. Hier ist etwas Größeres im Spiel. Es ist nur so ein Gefühl von mir. Ich habe manchmal solche Ahnungen. Es ist wie ein düsteres Puzzle, und Koros, mein Vater und du, Antilius, sind ein Teil davon.«
Der letzte Satz ließ Antilius erschaudern. Nicht nur, was Telscha sagte, sondern, dass sie Antilius jetzt mit ‚du’ anredete. Dadurch fühlte er sich irreversibel in die Pflicht genommen, dieses Rätsel zu lösen und Brelius zu finden. In diesem Moment musste er wieder an seinen Traum denken, den er zu Beginn seiner Ankunft geträumt hatte.
Was hatte Antilius selbst mit dieser Sache zu tun? Und warum war er ein Bestandteil von Brelius’ Träumen?
Es hat etwas mit deiner Vergangenheit zu tun. Es hat mit dem zu tun, woran du dich nicht mehr erinnern kannst, dachte er.
»Ich darf doch 'du' sagen, oder?«
»Sicher«, sagte er geistesabwesend, was Telscha nicht entging.
»Was hast du?«
»Das ist alles so verrückt. Das alles wirft nur noch mehr Fragen für mich auf. Eine unbeschreibbare Bedrohung und ein Fremder, der mich um Hilfe bittet«, sagte er mit verstörter Miene.
Telscha trat einen Schritt näher an ihn heran. »Du musst meinen Vater finden! Bitte! Du musst gehen und ihn suchen. Nur dann wirst du deine Antworten finden.«
Antilius ging zum Fenster, aus dem zuvor Telscha geschaut hatte und versuchte, irgendwo da draußen etwas zu finden, das ihm die Entscheidung darüber abnehmen würde, was er jetzt unternehmen sollte. »Selbst wenn ich mich bereit erklären würde, Brelius zu suchen. Woher weiß ich, dass er auch dort ist? Ich weiß ja nicht einmal, wie ich dort hingelangen soll, geschweige denn, wo genau sich die Festung befindet. Das ist kein Spaziergang. Gemäß dem Tagebuch deines Vaters war er wahrscheinlich über zwanzig Tage unterwegs.«
»Mein Vater wird dort sein. Davon bin ich überzeugt.
Ich habe eine Karte in der Alten Bibliothek gefunden. Sie ist zwar nicht unbedingt sehr genau, aber sie wird dich zu deinem Ziel leiten.« Telscha bückte sich nach einer alten Truhe, auf der eine Schlingpflanze wuchs, befreite den Deckel von dem violettfarbenen Gestrüpp, öffnete sie und holte ein kleines und sehr schmutziges Stück Papier heraus. Sie entfaltete das Blatt und hielt es Antilius vor die Brust.
Er zögerte. Die Karte in die Hand zu nehmen, würde für ihn endgültig bedeuten, sich gegenüber Telscha zu verpflichten, die Suche nach Brelius fortzusetzen und gleichzeitig eine Reise ins Ungewisse anzutreten. Sie schaute ihm tief in die Augen und dann sprach sie das aus, von dem Antilius ahnte, dass sie es schon, als er diesen Raum betreten hatte, in seinen Augen gesehen hatte.
»Er hat dich auch in deinen Träumen heimgesucht«, sagte sie.
Antilius fuhr innerlich zusammen.
»Koros war in deinen Träumen. War es nicht so?«, hakte sie nach.
»Ja. Einmal. Als ich mit dem Schiff herkam. Woher weißt du das?«
»Ich habe diesen Blick, mit dem du mich die ganze Zeit angesehen hast, schon einmal gesehen. Bei meinem Vater. Die gleiche Furcht. Dieselbe Sorge. Dasselbe Grauen.«
Es behagte Antilius nicht, dass andere Leute in seiner Gefühlswelt herumstocherten. Ungeachtet dessen hatte sie recht, und er wollte es sich nicht eingestehen. Der Fremde, der Mann ohne Gesicht, es war Koros Cusuar. Obwohl er keine Beweise hatte, war er sich in diesem Augenblick absolut sicher, dass er es war. Als ob er ihn irgendwoher kennen würde. Er fühlte eine gewisse unerklärliche Vertrautheit. Und wie es schien, war er selbst diesem Koros auch vertraut. Vertraut genug, um Antilius’ Anwesenheit zu spüren und mit ihm über einen Traum Kontakt aufzunehmen. Und Antilius die Klippe herunterzustürzen.
Er erschauerte.
Aber es wurde Antilius auch klar, dass es nicht richtig war, sich zu drücken und wegzulaufen. Sich zu verstecken. Er würde nie wieder ruhig schlafen können, wenn er sich nicht jetzt entschließen konnte, dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Er war gekommen, um etwas über seine Vergangenheit herauszufinden, um seine Erinnerungen an verlorene Jahre zu suchen. Und Brelius schrieb in dem Brief, dass es Antworten geben würde.
Er nahm die Karte in die Hand und spürte, wie Telscha innerlich einen Seufzer der Erleichterung von sich gab.
Er schaute sich die Abbildung sehr genau an und kam zu dem Schluss, dass er sie kein bisschen verstand. Wo war Norden? Wo Süden? Telscha drehte die Karte einmal um hundertachtzig Grad und deutete dann auf eine kleine Burg, die am linken unteren Kartenrand eingezeichnet war. Ein Kind hätte diese Karte wohl genauer zeichnen können, dachte sich Antilius.
»Das sieht nach einem sehr, sehr langen Weg aus«, stöhnte Gilbert.
»Das kann dir doch egal sein«, gab Antilius zurück.
»Die Hälfte der Strecke kannst du mit der Amedium-Bahn fahren. Sie sollte einmal bis zum südlichen Ende der Fünften Inselwelt führen, wurde jedoch aus Gründen, die wir nicht kennen, nie fertig gebaut. Es gibt eine geheime Abzweigung mitten im Wald. Man kann sie kaum sehen, wenn man in der Gondel sitzt. Also musst du wachsam sein. Du musst nach einer alten toten Ulme Ausschau halten. Dort befindet sich die Abzweigung.«
Antilius schüttelte den Kopf: »Ich finde bei dieser ungenauen Karte nie den Weg zur Festung.«
»Das tut mir Leid. Aber ich habe nichts Besseres«, sagte Telscha grimmig.
Antilius nickte. »Also schön.«
»Und noch Eines: Wenn du meinen Vater gefunden hast, dann musst du das Tor zerstören.«
»Zerstören? Ich? Aber wie?«
»Er wird es dir erklären. Er wird viele Antworten auf deine Fragen haben. Du bist derjenige, der uns helfen kann. Du und niemand anderes.«
»Und was soll ich tun, wenn ich deinen Vater nicht finden kann?«
Sie schwieg. Das war auch in Ordnung, denn er kannte die Antwort. Das Tor musste auf jeden Fall vernichtet werden, bevor es Koros erreichen konnte.
»Koros wird sicherlich schon unterwegs sein, um sich des Tores zu bemächtigen. Wie viel Vorsprung, glaubst du, werde ich haben?«
»Das weiß ich nicht. Koros weiß vermutlich jedoch nichts von der kleinen verlassenen Strecke der Metallbahn. Nur mein Vater und jetzt du und ich wissen davon. Sie wird dir einen Zeitvorteil verschaffen können, wenn du rasch aufbrichst.«
»Gut.«
Antilius überlegte kurz. »Telscha, willst du nicht mitkommen? Ich weiß, dass es vielleicht gefährlich werden könnte, aber du wirst vermutlich weniger Schwierigkeiten haben, den richtigen Weg zu finden als ich, und ich kann wirklich jede Hilfe gebrauchen.«
Telscha schien auf diese Frage vorbereitet. Sie verkrampfte sich. »Als ich meinen Vater zum letzten Mal gesehen habe und er mir gesagt hat, er wolle noch einmal zum Zeittor zurückkehren, da habe ich sofort meine Sachen gepackt und wollte mitgehen. Doch er flehte mich an, es nicht zu tun. Er hatte wahnsinnige Angst, dass mir etwas zustoßen könne, und ich musste ihm versprechen, dass ich niemals diesen grausigen Ort aufsuchen solle. Niemals. Es fiel mir zwar schwer, aber ich versprach ihm, hier zu bleiben.
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