Deshalb bleibe ich jetzt auch hier und werde auf ihn warten, denn dieses Versprechen darf ich nicht brechen. Ich werde hier warten, bis er zurückkehrt, denn ich weiß, dass er zurückkehren wird.« Telschas Augen füllten sich mit Tränen und dann fixierten diese Antilius mit einer hypnotischen Entschlossenheit. »Bring ihn mir zurück, Antilius. Bring ihn mir zurück.«
Antilius verstand und verabschiedete sich unangemessen knapp. Er wollte nicht mehr länger von dem Gefühl erdrückt werden, die Last einer großen Verantwortung gegenüber Telscha zu tragen. Der Last, ihren Vater finden zu müssen.
Als er wieder auf der nun sehr still gewordenen Gasse im Freien stand, ging es ihm schon wieder ein wenig besser.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Gilbert.
»Wir werden Pais bitten, uns zu begleiten, schließlich ist er der beste Freund von Brelius.«
Uns. Das gefiel Gilbert. Er freute sich riesig, dabei sein zu dürfen, bei diesem geheimnisvollen Abenteuer. Auch wenn er es nur durch eine Glasscheibe erleben durfte.
Aus dem angebrochenen Abend wurde langsam eine dunkle Nacht. Immer mehr Sterne lugten aus dem Himmelszelt hervor.
Antilius ging zurück zum Wurmhügel und wünschte sich, er wäre nie hierher gekommen.
Als Antilius in der Dunkelheit der Nacht zum Wurmhügel zurückkehrte, bot sich ihm ein Anblick, der es ihm unmöglich machte, seine Kinnlade wieder zu schließen.
Pais Ismendahl hatte hinter dem Haus ein kleines Feuer entzündet. Hoch über den tanzenden Flammen gaben die Riesen-Glühwürmchen ihre Galavorstellung. Etwa zwei Dutzend von ihnen schwirrten spiralförmig über dem brennenden Holz. Die aufsteigende heiße Luft schien sie zu Höchstleistungen anzuspornen. Sie änderten ohne erkennbaren Rhythmus ihre leuchtende Formation. Mal bildeten sie einen Kreis, mal eine Pfeilform, mal einen Stern oder sogar eine Kugel. Das sanfte Brummen, das sie dabei erzeugten, glich dem beruhigenden Schnurren einer Katze.
Antilius begriff, warum Pais soviel Wert auf diese kleinen Wesen legte. Sie waren äußerst intelligent und wunderschön anzusehen.
Lange, sehr lange beobachteten er und Gilbert die Darbietung, bis die Glühwürmer schließlich erschöpft waren und einer nach dem anderen zur Landung in ihren geräumigen Käfig ansetzten.
Als auch der letzte seinen Kunstflug beendet hatte, war es nicht schwer, Pais davon zu überzeugen, Antilius bei seiner Suche zu begleiten. Der alte Herr meinte, es könne nicht schwer sein, den Ort zu finden, an dem sie Brelius Vandanten vermuteten. Die Largonen-Festung könne man schlecht übersehen, sagte er. Es war schließlich ein Dorf, das von Riesen erbaut worden war.
Am nächsten Morgen wollten sie aufbrechen. Doch bis dahin hatten sie noch die ganze Nacht vor sich. Und die nutzten sie, um gemeinsam am Feuer zu sitzen und so viel wie möglich voneinander zu erfahren. Nur Gilbert hielt sich gewohntermaßen zurück mit Geschichten aus seiner Vergangenheit.
Pais war ein unverschämt guter Erzähler. Er konnte jede noch so unbedeutende Begebenheit aus seinem Leben fesselnd schildern.
Und Antilius bemerkte, wie auch Gilbert auflebte. Und lachte. Er lachte aus vollem Herzen. Kein Streit. Keine Bosheiten. Wie lange war es wohl her gewesen, dass er das letzte Mal so ausgelassen gelacht hatte? Wie lange hatte er mit der Einsamkeit in seinem Gefängnis ausharren müssen? Erst jetzt empfand Antilius echtes Mitleid mit seinem Freund. Man hatte Gilbert alles genommen, aber seine Seele konnte man ihm nicht nehmen.
Nachdem Pais ein paar Anekdoten aus seinem früheren Leben in den Ahnenländern zum Besten gegeben hatte (warum und vor allem, wie er von dort geflohen ist, behielt er zu Antilius’ Unmut und trotz einer beherzten Nachfrage für sich), fragte er freundlich nach Antilius’ Herkunft.
Und das war der Moment, in dem sich für Antilius alles änderte. Zunächst wollte er irgendetwas kurzes Erfundenes daherstammeln, wie er es früher getan hatte, wenn ihn jemand nach seiner Herkunft fragte. Doch dann entschied er sich endlich, das erste Mal in seinem Leben jemandem die Wahrheit zu erzählen. Was hatte er denn zu verlieren? Wieso sollte er etwas erfinden und sich in Lügen verstricken? Er vertraute den beiden Männern am Lagerfeuer. Er wollte es endlich jemandem erzählen. Es musste endlich aus ihm heraus. Es ständig allein mit sich herumzuschleppen war unerträglich. Und er musste sich bemühen, dass er sich beim Sprechen nicht überschlug. Sein Herz raste auf einmal. Sein Mund wurde ganz trocken, und er verspürte ein leichtes Kribbeln in den Armen. Denn das, was er über sich zu erzählen hatte, war so unglaublich, dass er sich bisher noch nie jemandem anvertraut hatte.
»Ich weiß nicht, wer ich bin«, begann er und wartete die Reaktionen von Pais und Gilbert ab.
»Was meinst du damit?«, fragte Pais, der sofort erkannte, dass Antilius angespannt war und es sehr ernst meinte, was er sagte.
»Die ganze Geschichte?«, fragte Antilius.
»Ja, bitte.«
»Also schön. Aber ich muss euch erst sagen, dass ich es noch nie jemandem erzählt habe, weil, … weil ich es eben nicht konnte. Und verdammt, es fällt mir auch jetzt sehr schwer, darüber zu reden.«
»Wir haben die ganze Nacht Zeit«, sagte Gilbert in einem erleichternd beruhigenden Ton.
Dann begann Antilius zu erzählen und mit jedem Satz, mit jedem Wort fühlte er, wie eine Last von ihm fiel, wie er sich leichter und leichter fühlte. »Ich erinnere mich nur bruchstückhaft an meine Kindheit. Eine glückliche Kindheit muss es wohl gewesen sein. Ich erinnere mich, wie ich an einem Fluss sitze und angle. Ich erinnere mich, wie sich meine Mutter über mich beugt, um mir einen Gute-Nacht-Kuss zu geben, und ich erinnere mich an einen meiner Geburtstage, bei dem es einen großen dunklen Kuchen gab und viele andere Kinder da waren, und wie wir gelacht haben, und wie wir spielten, bis es dunkel wurde. Ich erinnere mich an das Panorama einer Stadt mit hohen, weißen Türmen, obwohl ich weiß, dass es auf Thalantia so eine Stadt nicht gibt.
Und dann … Dann fehlt mir die Erinnerung. Ich weiß nicht genau, wie viele Jahre es sind. Ich schätze, dass ich mich an die Zeit zwischen meinem zwölften und vielleicht zweiundzwanzigsten oder dreiundzwanzigsten Lebensjahr an nichts mehr erinnern kann. Aber wie gesagt, das ist nur eine Schätzung. Ich weiß nicht genau, wie alt ich jetzt bin. Vermutlich Ende zwanzig. Ich weiß es nicht.«
Pais hätte Antilius einen Tick jünger geschätzt, aber er glaubte, dass Ende zwanzig auch hinkommen könnte.
»Und was ist deine erste Erinnerung nach dieser Zeit des Vergessens?«, fragte er.
Antilius schloss kurz die Augen. Dann war er im Geiste an dem Ort, an dem seine Erinnerungen wieder begannen. »Ich erinnere mich, wie die Luft, die ich einatmete, salzig war. Es war dunkel. Es war eine sternenklare Nacht. Der Mond Pathan war nur eine dünne ockerfarbene Sichel am Nachthimmel. Um mich herum war …«
… das Meer. Es war ganz ruhig. Nur eine leichte salzige Brise strich Antilius durchs dunkelbraune Haar, das in dieser Nacht vor fast sieben Jahren schulterlang war. Er stieg einen felsigen Pfad empor.
Der Pfad war schmal und steil. Er gehörte zu einem kleinen schwarzen Felsen, einem von über vier Dutzend, die vor der Westküste von Bétha aus dem Wasser ragten. Das Felsgestein war brüchig und scharfkantig, weswegen diese Felsengruppe auch ‚Die Splitternden’ genannt wurde.
Ohne sich nach links oder rechts zu drehen, ja ohne sich überhaupt darüber bewusst zu sein, dass Antilius die Spitze des Felsens erklomm, setzte er einen Fuß vor den anderen. Er war noch nicht wirklich dort auf diesem Felsen. Physisch schon, aber er fühlte sich noch wie in einem Traum, alles um ihn herum kam ihm nicht real vor; er fühlte sich dieser Realität nicht zugehörig. Anders konnte er seinen Zustand im Nachhinein nicht besser beschreiben.
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