Er bemühte sich daraufhin krampfhaft, das Bild eines rohen Tintenfisches mit seinen glibbrigen Tentakeln auf einem Teller aus seinem Kopf zu verdrängen, während er zum Wirtshaus schlenderte.
Zufällig, ohne dass er selbst es bemerkte, lief ein Gorgen an ihm vorbei. Es handelte sich nicht um einen derjenigen, die ihn überfallen hatten. Antilius erkannte das Geschöpf nicht als Gorgen, weil er während des Überfalls letzte Nacht keine Gelegenheit bekommen hatte, einen zu betrachten.
Gilbert aber erkannte sofort, um welche Rasse es sich handelte und ließ es sich nicht nehmen, sich einen Spaß daraus zu machen.
»Feuer!«, schrie er aus Leibeskräften.
Alle Passanten in Antilius’ Nähe blieben abrupt stehen und schauten sich verschreckt um, konnten jedoch das vermeintliche Feuer nicht ausmachen. Natürlich gab es keinen Brand, aber Gilbert wollte dem Gorgen einen Schrecken einjagen, wohl wissend über dessen angeborene Urangst vor Flammen. Während der Gorgen in Panik seine Flügel aufriss und so schnell er konnte davonflog, registrierten die anderen Leute schnell, dass es kein Feuer gab und setzten kopfschüttelnd oder auf den verdutzten Antilius schimpfend ihren Weg fort.
»Was sollte das?«, fragte er, ebenso schockiert wie böse.
»Ich wollte dem Gorgen nur einen kleinen Schrecken einjagen. Das sind Mistviecher! Die haben es nicht anders verdient. Ist mir doch gelungen, findest du nicht? Wenn diese Gorgens nicht eine derart ausgeprägte Phobie vor Feuer hätten, wäre ich gestern nicht in der Lage gewesen, sie zu verscheuchen.«
»War das etwa einer der Diebe?«, wollte Antilius wissen und schaute dabei dem davonfliegenden Gorgen hinterher.«
»Nein, der ist harmlos. Bedenke, dass, wer sich in Fara-Tindu aufhält, keine Verbrechen begangen hat. Dafür sorgt die Stadtwache. Frage nicht, wie oder warum. Es ist so.«
»Dann hättest du dir diesen Unsinn ja auch sparen können. Sieh doch nur, wie mich alle jetzt anschauen. Die denken doch jetzt, dass ich ein Verrückter bin.«
»Nun sieh das mal nicht so eng. Das war doch nur ein harmloser Spaß«, beschwichtigte Gilbert.
Doch Antilius’ Sorge schien berechtigt gewesen zu sein. Aus dem Getümmel trat plötzlich eine große Gestalt in grauer Uniform mit einem polierten silbernen Brustschild heraus, um ihn abzufangen.
Ein scharfer angsteinflößender Blick fiel auf ihn herab und fixierte ihn. Es war eine der Stadtwachen.
»Na toll«, murmelte Antilius.
Die Wache blieb ein paar Zentimeter vor ihm stehen und baute sich vor ihm auf, um sich noch ein wenig größer zu machen, obwohl dies völlig unnötig war, denn sie war ohnehin etwa drei Köpfe größer als er.
»Bei der Ehre unserer heiligen Stadt Fara-Tindu! Was sollte dieses Geschrei?« Die Stimme der Wache war äußerst tief und durchdringend, sodass Antilius kurz zusammenzuckte.
»Ich ... ich war das nicht! Mein Freund hier dachte, er könne sich einen kleinen Spaß erlauben«, sagte Antilius mit zittriger Stimme und zeigte dabei auf seinen Spiegel, der immer noch in seinen Hosengürtel geklemmt war. Die Augen der Wache folgten ungläubig seinem Fingerzeig. Doch in diesem Moment schien die Sonne so unglücklich auf die Spiegeloberfläche, dass das Licht vom Glas reflektiert wurde, und man das Innere nicht sehen konnte. Danach schaute die Wache Antilius wieder ins Gesicht, mit einem noch düstereren Blick als zuvor. Er war überrascht, dass es diesbezüglich noch eine Steigerung gab.
»Aber sicher. Dein kleiner Spiegel hat herumgebrüllt.«
»Ja. Glauben Sie mir etwa nicht?«
»Jetzt hör mir mal ganz genau zu, du armer Irrer. Wenn du noch einmal auf die Idee kommst, Ärger zu machen, dann werde ich persönlich dafür sorgen, dass du nie wieder einen Ton von dir geben kannst. Hast du mich verstanden?«, knurrte die Wache gefährlich ruhig und durchbohrte Antilius mit ihren Augen. Für einen verrückten Augenblick dachte Antilius, er könne kleine Dampfwölkchen aus den großen Nasenlöchern seines wütenden Gegenübers strömen sehen.
In Anbetracht dieser überzeugenden Drohung hielt er es für angebracht, nicht darauf zu bestehen, dass in Wahrheit Gilbert für den Schlamassel verantwortlich war. Und so nickte er nur brav und piepste: »Es kommt nicht wieder vor. Ich verspreche es. Es tut mir Leid.«
»Ja, mir auch«, sprach der Wachmann und riss Antilius den Spiegel aus seinem Gürtel, warf ihn auf den Boden und trat mit zwei kräftigen Fußtritten darauf.
Antilius war entsetzt, traute sich aber nicht, etwas zu sagen. Er stand nur wie gelähmt da, mit weit aufgerissenen Augen.
Die Wache verabschiedete sich dann mit einem höhnischen Grinsen und verschwand ebenso schnell, wie sie aufgetaucht war wieder in der Menge der Passanten.
Als Antilius überzeugt war, dass er unbeobachtet war, bückte er sich hastig, um nach dem Spiegel zu schauen. Er erwartete einen Scherbenhaufen, aber er wurde wieder überrascht. Das Spiegelglas war weder zerbrochen, noch hatte es den kleinsten Kratzer abbekommen. Durch das völlig unversehrte Glas konnte er Gilbert sehen, der in etwas größerem Abstand als sonst zur Spiegelwand stand und einen perfekt reuigen Blick aufgelegt hatte. Antilius’ Schrecken wandelte sich erst langsam aber dann immer schneller in brodelnde Wut um. »Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«, zischte er Gilbert an.
»Es tut mir wirklich Leid. Ich hatte ja keine Ahnung, dass hier ein Ordnungshüter sein Unwesen treibt. Hätte ich das gewusst, hätte ich niemals so etwas getan.
Am besten wir vergessen das Ganze und gehen weiter nach Pais suchen. He, ich habe eine Idee: Wenn wir im Wirtshaus angekommen sind, dann solltest du dir dort einen blauen Bergquell bestellen. Ein wunderbares Getränk, das dich nach dem kleinen Schrecken ganz sicher wieder eine wenig beruhigen wird, und dann kannst du diesen dummen Vorfall ganz einfach vergessen.«
»Ich habe eine bessere Idee: Ich werde nach Pais suchen und lasse dich einfach hier liegen. Was hältst du davon?«, fauchte Antilius wütend.
Gilbert sah plötzlich sehr besorgt, ja ängstlich aus. »Also, ehrlich gesagt, halte ich davon nicht besonders viel. Ich entschuldige mich nochmals. Mehr kann ich nicht tun, als dir zu versprechen, dass so etwas nie wieder vorkommen wird. Ich wollte diesem dummen Gorgen einfach eine kleine Lektion erteilen. Ich konnte mich einfach nicht beherrschen.«
Daraufhin entspannte sich Antilius wieder und atmete ein paar Mal tief durch. »Es ist meine Schuld«, sagte er resigniert. »Ich hätte erst gar nicht hierher kommen dürfen. Ich war auf dieses Land völlig unvorbereitet. Deswegen ist alles schief gelaufen.«
»Ach was! Hier ist alles für dich vielleicht ungewohnt, aber das waren nur ein paar Startschwierigkeiten. Es wird dir schon noch gefallen, warte nur ab«, sagte Gilbert, obwohl er sich nicht ganz sicher war, ob dies auch der Wahrheit entsprechen würde.
Er legte eine Pause ein, die Antilius zum Nachdenken nutzte.
»Komm, gehen wir! Es ist nicht mehr weit bis zum Wirtshaus. Dort kannst du dich ausruhen.«
Antilius atmete noch einmal tief ein. »Also schön«, seufzte er und stand auf, wobei er sich den Spiegel wieder in den Gürtel steckte.
»Ach, eines noch, Meister.«
»Was denn?«
»Du hast die Wache mit 'Sie' angeredet. Auf Bétha, dort wo du herkommst, mag das so üblich sein, aber auf den meisten anderen Inselwelten ist 'Ihr' und 'Euch' gebräuchlicher. Wenn du dich daran hältst, merkt auch keiner sofort, dass du nicht von hier bist.«
»Gut, das werde ich mir merken.«
Wenig später erreichte Antilius endlich das Wirtshaus.
Weil heute ein angenehm warmer und sonniger Tag war, bediente das Personal auch außerhalb des Hauses, vor dem ein paar bescheidene Tische und Stühle aufgestellt waren. Es herrschte Hochbetrieb. Das Wirtshaus hatte einen guten Ruf in der Stadt. Antilius stellte sich an die Seite der vollbesetzten Tische.
Читать дальше