»Na los! Komm her zu mir!«
Antilius hielt es für besser, nicht zu antworten. Vielleicht rief da derjenige, der ihn niedergeschlagen hatte. Geduckt schlich er am Wegesrand zurück zum Platz.
»Hallo! Ich kann dich doch sehen. Na los, komm her!«
Antilius schwieg weiter. Hinter einem Busch versteckt, versuchte er, den Fremden ausfindig zu machen. Er konnte aber wieder niemanden sehen.
»Hier bin ich! Hier gegenüber! In dem Laub. Hierher!«
Jetzt konnte Antilius genau ausfindig machen, dass die Stimme irgendwo von dem Rand des Platzes neben einer der Bänke kam. Er kam vorsichtig aus seinem Versteck hervor und lief hinüber zu der Bank, von der die Stimme zu kommen schien.
»Hierher!«
Antilius kniete neben der Bank nieder und sah aber immer noch niemanden.
»Direkt vor deiner Nase. Hier bin ich!«
Dann bemerkte er etwas. Etwas im Laub. Es war aus Metall. Und aus Glas. Er schob mit seiner Hand die Blätter zur Seite und zum Vorschein kam ... ein Spiegel. Ein kleiner rechteckiger Handspiegel mit einem Griff an der Unterseite, der gegen einen moosbewachsenen Stein gelehnt war.
»Es wäre schön, wenn du den Spiegel mal in die Hand nehmen würdest. Dann kann ich dich sehen und du mich.«
Antilius starrte den Spiegel mit weit geöffnetem Mund an. Zunächst glaubte er an irgendeinen Trick. Eine Illusion. Vielleicht hatte ihn der Schlag von letzter Nacht härter getroffen als geglaubt. Aber dem war nicht so.
»Nun mach schon!«, forderte ihn die Stimme ungeduldig auf.
Vorsichtig streckte Antilius eine Hand nach dem Spiegel aus. Er berührte den schnörkellosen Griff, zögerte noch einmal und umschloss ihn dann fest.
Eigentlich erwartete er, in dem Spiegel sein eigenes Gesicht zu sehen, aber was sich ihm jetzt bot, ließ ihn die Luft anhalten. Antilius konnte durch das Spiegelglas hindurchsehen wie durch ein Fenster. Hinter dem Glas stand ein schmächtiger Mann mit braunen Haaren und abgewetzter Kleidung. Er befand sich in einem kleinen Zimmer mit nur einem einzigen Fenster. An der rechten Seite stand ein kleines Bett. An der gegenüberliegenden Seite ein einfacher alter Holztisch mit einem noch einfacheren Stuhl.
»Was ... Wer ...«, Antilius brachte keinen vollständigen Satz heraus. Er war völlig perplex.
Der Mann hinter dem Spiegelglas nickte verständnisvoll: »Schon gut. Ich verstehe schon. Glaube mir, du bist nicht der Erste, dem die Kinnlade herunterklappt. Stell dir vor, einmal ist jemand sogar schon in Ohnmacht gefallen, weil er dachte, ich wäre so eine Art böser Kobold, aber das mit der Ohnmacht hast du ja schon hinter dir, nicht wahr? Ich hoffe, du bist kein Wiederholungstäter.« Der Mann lächelte augenzwinkernd. »Gilbert.«
»Was?«
»Gilbert. Das ist mein Name. Und du bist ...«
»Antilius. Wie ... wie bist du in den Spiegel geraten?«
Gilberts Miene wurde ernster. »Du glaubst doch wohl nicht, du wärst der Erste, der mich so etwas fragt? Es ist eine lange Geschichte, die dich nur langweilen würde«, sagte Gilbert.
»Wie du willst.« Antilius schaute noch einmal genauer in das Bild, das der Spiegel ihm bot. Gilbert trat sogar ein Stück zur Seite, damit er sein Zimmer genauer betrachten konnte. Hinter dem Fenster von Gilberts Zimmer strahlte ein hellblauer Himmel, der am Horizont auf eine gigantische Wildblumenwiese traf.
»Ich weiß, es ist nicht gerade eine Luxusherberge, aber man kann es sich halt nicht immer aussuchen.«
»Ist dies hier so eine Art Kommunikationsinstrument, über das wir uns sehen und sprechen können?«, wollte er wissen.
»Nein. Das ist es nicht. Ich bin nicht irgendwo anders und spreche mit dir. Nein, ich bin hier in diesem Spiegel gefangen. Dies ist ein Gefängnis für jedwede Art von Lebensform, die es auf Thalantia gibt.«
»Das verstehe ich nicht. Und... und wie siehst du mich?«
»Ich habe hier auch einen Spiegel. Er hängt an der Wand und ich sehe dich im Wald stehen. Hinter dir erhebt sich diese entsetzlich protzige Statue, deren Bildhauer wohl so wenig Talent gehabt haben muss, sodass er seine Hände mit seine Füßen verwechselte.«
»Was heißt, du bist im Spiegel gefangen?«
»Ich wurde zur Strafe hierher verbannt, obwohl ich nicht einmal einen Prozess bekommen habe. Du kannst dir das nicht vorstellen, aber das ist die schlimmste Strafe, die es auf der Siebeninselwelt gibt. Ich kann hier nicht einmal etwas essen und verhungere trotzdem nicht. Diese Strafe wird heute gar nicht mehr angewendet, weil es keine Spiegel mehr gibt, soweit ich weiß. Aber niemand, den ich bisher getroffen habe, weiß, wie ich hier wieder rauskommen kann.«
»Dein Zimmer hat keine Tür«, bemerkte Antilius.
»Genau! Praktisch, nicht wahr? So ist es mir unmöglich, jemals zu entkommen«, sagte Gilbert zynisch.
»Warum kannst du nicht einfach durch das Fenster steigen?«
»Ja, das könnte ich machen, aber ich tue es nicht, weil es nämlich dort draußen nichts gibt.«
»Aber ich sehe doch Gras und die Sonne!«
»Das ist nur ein Konstrukt meiner Fantasie. Dort draußen könnte auch genauso gut ein höllischer Schneesturm treiben. Nein, da ist nichts. Und wenn ich versuchen würde, in das Nichts zu gehen, dann werde ich auch zu Nichts . Verstehst du?«
»Na ja, nicht vollkommen. Das ist wirklich alles sehr verwunderlich.« Antilius machte eine Pause. »Man hat dich also aufgrund eines Verbrechens in dieses ... dieses Gefängnis gesperrt?«
Gilbert wurde laut: »Es kommt darauf an, wie man Verbrechen definiert. Ich bin mir sicher, dass du es auch nicht als Verbrechen bezeichnen würdest. Ganz im Gegenteil.«
»Was soll das heißen?«
»Das heißt, dass ich hier zu Unrecht eingesperrt bin! Bitte, nimm mir das nicht übel, aber ich habe jetzt wirklich keine Lust mehr, darüber zu sprechen.«
»Na schön. Darf ich dann wenigstens fragen, wie dieser Spiegel hierher gekommen ist?«
»Mein alter Meister hat mich hier einfach in den Dreck geschmissen. Mit dem habe ich noch eine Rechnung offen.«
Antilius runzelte die Stirn. »Dein alter Meister?«
Gilbert zog sich den einzigen Stuhl in seinem Zimmer heran und setzte sich. »Zu meiner Bestrafung gehört es ebenfalls, dass ich, oder besser gesagt mein Spiegel, an eine ausgewählte Person geschickt werde. Diese Person ist dann mein Meister, wenn sie es denn sein will. Du glaubst ja gar nicht, wie viele Verrückte es da draußen gibt.
Mein letzter Meister war wohl meiner überdrüssig geworden, was im Übrigen auf Gegenseitigkeit beruhte, sodass er sich meiner Präsenz entledigte. Seit mehr als neunzig Tagen liege ich nun schon hier. Diese Einsamkeit ist einfach schrecklich. Aber jetzt bist du ja da. Du bist mein neuer Meister.«
»Was? Ich bin gar nichts! Soll ich dich etwa die ganze Zeit mit mir herumschleppen?«
Gilbert stand von seinem Stuhl auf und ging näher an den Spiegel heran. »He, denk mal bitte daran, wer diese Gorgens vertrieben hat! Wenn ich sie nicht verscheucht hätte, dann hättest du mehr als nur Kopfschmerzen.«
»Gorgens? Sind das die, die mich ausgeraubt haben?«
Gilbert nickte. »Ich wollte dich ja noch warnen, aber da war es schon zu spät. Die Sachen, die sie dir gestohlen haben, wirst du wohl nie wieder sehen. Tut mir Leid.«
»Also du warst die Stimme aus dem Nichts.« Antilius überlegte. »Nun, dann muss ich mich wohl bedanken, dass du versucht hast, mir zu helfen. Wenn du willst, dann nehme ich dich mit in die Stadt und dort könnte ich dich ja an jemanden ...«
»Nein! Nein!«, rief Gilbert. »Bitte! Gib mich nicht wieder her! Kann ich nicht bei dir bleiben? Ich werde dir bestimmt auch keinen Ärger machen. Aber bitte gib den Spiegel nicht jemand anderem und lass ihn und damit auch mich nicht hier im Wald. Bitte tu das nicht.«
In diesem Augenblick sah Antilius etwas sehr Deutliches in Gilberts Augen. Wenn er es in Worte hätte fassen müssen, wäre der wohl passende Ausdruck Verzweiflung gewesen.
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