„Was ist das?“, wollte Mike wissen. „Auf dem Mond kann es so etwas nicht geben.“
„Es dürfte auch keine Gravitationsanomalien geben, und doch gibt es sie. Es darf keine Sandbewegung geben, und doch gibt es sie. Das hat mich zum Handeln gezwungen.“
Sie diskutierten das Phänomen und sahen zu, wie Tim und Ling in der Senke verschwanden.
„In diesem Moment habe ich den Sprengbefehl gegeben“, erklärte Conny. „Die NASA und die Chinesen dürften nun keinen Anlass haben, unmittelbar eine neue Mission zur Rettung oder Bergung der beiden zu senden. Dann wäre unser Projekt gescheitert.“
Er ließ die Bilder wieder abspielen und sah in ratlose Gesichter.
„Wir haben über alle Kanäle entsprechende Erklärungen über das Auftreten neuer Gravitationsschwankungen als Ursache für den Absturz unseres Satelliten an die Presse und die NASA gegeben. Das kann niemand überprüfen, daher gibt es keine Vorwürfe. Selbstverständlich haben wir Hilfsangebote an China und die NASA gemacht. Wir haben sogar einen Fond gestiftet, den wir nach Tim und Ling benennen wollen. Er soll der Förderung der friedlichen Mondnutzung dienen. Allerdings ist das nur eine Idee, die wir in den nächsten Monaten nach und nach wieder begraben werden. Momentan sind wir jedenfalls auf der korrekten Seite, was die Öffentlichkeit angeht.“
„Und wie soll es nun weitergehen?“, wollte Mike wissen, der nun schon zufriedener aussah. Das Dunkle, das sich über sein Gemüt gelegt hatte, war nun schon deutlich aufgehellt.
Herlith öffnete eine neue Grafik. „Das hat der Roboter aufgenommen, als er zum letzten Mal die Rückseite des Mondes überflog. Beim Passieren der Tag-Nacht-Grenze hat er die Informationen gesendet.“
Die Grafik baute sich auf und zeigte ein Muster mit vielen Zacken und noch mehr Zahlen.
„Das sind ja auch Störungen des Schwerefeldes“, stellte Mike sofort fest. „Was hat das zu bedeuten? Ist das wirklich ein aktuelles Ergebnis von der Rückseite des Mondes?“
Herlith bestätigte die Angaben. Sie zeigte wie üblich ihr überhebliches Lächeln, als sie hinzufügte, dass das dem Rest der Welt verborgen ist.
„Alle Analysen lassen nur einen Schluss zu, Mike. Kurz vor dem Absturz muss etwas unter der Oberfläche von MATRA, wie die NASA die Landestelle nennt, passiert sein. Diese Ursache hatte die Störungen auf der Rückseite zur Folge. Es gibt keinen anderen logischen Zusammenhang. Folgerung: Auf der abgewandten Seite des Mondes muss es ein zweites künstliches Objekt geben, von dem nur wir wissen.“
Stille.
„Und wo genau ist das?“, wollte Mike wissen, dessen Laune sich schon merklich gebessert hatte. Tim und Ling waren leider notwendige Nebenschäden im großen Kampf um den ultimativen Erfolg. Auch für die erste Umsegelung der Erde waren vorher einige Tapfere gestorben. Das lag im Wesen einer jeder neuen Großtat!
Eine Karte der Rückseite des Mondes baute sich sofort auf. Eine Stelle war rot umkreist.
„Es ist direkt im Krater Tsiolkowskiy, dicht an dem hellen Zentralberg. Die gemessenen Werte liegen bei 20,31 Süd und 129,055 Ost.
„Und wer könnte noch davon wissen, wenn wir alle unmöglichen Gründe heranziehen?“,
„Da die NASA dieses Phänomen nicht beobachten konnte, niemand“, stellte Herlith fest. „Von uns hat es niemand erfahren. Alles ist auf diesen Kreis hier beschränkt.“
Mike rieb sich die Nase. Das war ein untrügliches Zeichen dafür, dass er intensiv nachdachte.
„Herlith“, sagte er anschließend, „du organisierst einen Flug dorthin. Treibe irgendwo eine Rakete und zwei zuverlässige Astronauten auf. Wolfhardt kümmert sich um die Technik und Sicherheit, Conny in diesem Fall um die verschleierte Finanzierung. Ferenzi wird einen unverfänglichen Anlass finden, uns die Erkundung dieses Gebietes zu sichern. Dort wird es doch irgendetwas geben, was man vielleicht eines Tages abbauen kann, oder so. Ihr habt für die Planung des Projektes drei Tage Zeit, also bis zum 6. April, dann muss alles stehen. Ich will in absehbarer Zeit die Landung im Krater Tsiolkowskiy sehen. Das wird Geschichte schreiben, weil es die Rückseite des Mondes ist. Hinterher laden wir die NASA und die Chinesen ein!“
Er wollte schon gehen, drehte sich aber noch einmal um.
„Ihr werdet bis zum Ende der Planung alle in den Räumen D 11 leben. Jeder hat ein Zimmer mit dem benötigten Material. Es gibt nur einen Zentralrechner, der auf meinen Rechner zurückgreifen kann. Alle eigenen Rechner sind dezentral. Keine Kommunikation nach draußen, bitte. Irgendwelche Fragen? Nein. Eine Liste mit euren persönlichen Wünschen bezüglich Essen, Trinken und anderen Dingen bitte in 10 Minuten an mich. Die Konsole in jedem Raum dient dem Zugriff auf alle Bibliotheken dieser Welt. Damit kann nicht gesendet werden. Danke.“
Mike verließ den Raum. Er hatte gerade jetzt den Wunsch, ein Glas Rotwein zu trinken, zumindest an ihm zu schnuppern, denn er versagte sich jeglichen Alkohol. Das war für ihn Schwäche. Doch er spürte dieses Sehnen, gegen das er immer wieder ankämpfen musste. Herlith übernahm zunächst das Kommando. So war es immer.
„Krater Tsiolkowskiy“, dachte sie sich. „Da wollte ich doch schon immer mal hin!“
In ihrem Kopf formte sich sofort eine Idee, eine sehr gute, wie sie fand.
Doch nicht nur in ihrem Kopf formulierte sich eine Idee. Wolfhard hatte sich alles gemerkt, was wichtig war. Wieder einmal griffen Menschen, die nur Geld und Macht in ihrem Kopf hatten, nach dem Aufenthaltsort Gottes. War nicht der Mond eines der Lichter, die er gemacht hatte? Nun sollte dieser Ort schon wieder befleckt werden! Zwei Sünder sind doch gerade vom Mond verschluckt worden! Doch der Allmächtige hatte ihn nicht ohne Plan und Auftrag bis hierhergeführt. Er, Jophiel, einer der Erzengel, würde seine Aufgabe ernst nehmen und seine Bürde tragen. Bald schon würde sich Gelegenheit bieten, Justus Frahm, den Berufenen Gottes, über diese Pläne zu informieren. Die Gelegenheit würde sich bieten.
Zur gleichen Zeit liefen die Untersuchungen der NASA und der Chinesen auf Hochtouren. Wu-Shi sah sich immer und immer wieder die Bilder an, die die Helmkameras übermittelt hatten. Die NASA hatte für dieses spezielle Problem einen neuen Direktor eingesetzt, Dr. Miles.
Dieser Mann, ein ehemaliger Kampfflieger der Navy, war 1,84m groß, 54 Jahre alt und verheiratet. Er war Vater von zwei Kindern, die sich zum Leidwesen ihres Vaters ganz der pazifistischen Sache verschrieben hatten. Nach der aktiven Pilotenzeit studierte Miles Politik und Wirtschaft, promovierte erfolgreich und fand bei der CIA einen hoch dotierten Job. Da er gut Spanisch und Französisch sprach, leitete er verdeckte Operationen in Europa, bevor er dann zur NASA wechselte und sich ganz der Astronautik widmete. Sein graues Haar und die randlose Brille gaben ihm etwas Akademikerhaftes, aber sein analytischer Verstand war sehr praxisorientiert. Er zog das Bein etwas nach, da er vor einigen Jahren in Paris angeschossen worden war. Damals hatte seine Frau ihn vor die Alternative gestellt: Entweder ein anderer Job oder Scheidung. Dr. Miles hatte sich für einen anderen Job entschieden. Als Direktor der Abteilung für die Sicherheit der Raumflüge hatte er einen guten Ruf zu verteidigen. Wu-Shi schätzte ihn sehr, was aber auch auf Gegenseitigkeit beruhte.
Nachdem sie sich nun schon mindestens zehn Mal die Aufzeichnungen abgesehen hatten, ohne etwas Neues zu entdecken, lehnte er sich zurück und wartete auf Wu-Shis Kommentar.
„Miles“, wandte sich Wu-Shi an seinen Kollegen. „Ich kann mir darauf keinen Reim machen. Sieh mal!“ Er ließ die letzten Sequenzen ablaufen. „Fällt dir etwas auf?“
Miles sah genau hin. Er versuchte, das gesamte Bild zu erfassen, nicht nur einen Ausschnitt. Doch er konnte nichts erkennen.
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