»Die wissen genau, wie sie uns anschauen müssen,« amüsierte Gerald sich und verschenkte, umlagert von Rotznasen, Nüsse. Ich hatte schon in Kairouan gesehen, dass die Kleinen allerharmlosest die schmutzigen Händchen hinhielten, von Touristen gestreichelt und beschenkt wurden. Und hinter der nächsten Häuserecke brachen sie in kreischendes Spottgelächter aus über die gutgläubigen Besucher. Hier, am leidlich fruchtbaren Rand der Wüste, wo der Tourismus noch einigermaßen blühte, erging es den Leuten nicht schlecht. Französisch war überall zu hören, häufig auch Englisch. Also lag auch die Schulbildung nicht brach. Gafsas Läden waren vollgestopft mit Getreide, Erbsen, Bohnen, Kartoffeln und tausend bunten Kleinigkeiten wie Plastikknöpfen, Tüchern, Spielzeug und Sandrosen, jene wunderschönen, blumenhaften Gebilde aus den Tiefen der Sahara, von Wind aus Sand modelliert. Frische Waren gab es am Markt zu ersteigern. Nach orientalischem Brauch erwartete man sogar hier das Erhandeln akzeptabler Preise für viele Waren auch von den Besuchern, es bewirkt reizvoll spielerisches Kennenlernen zwischen den so unterschiedlichen Menschen.
Wir freuten uns auf ein anständiges Abendessen, da hier erstmals wirklich üppig Gelegenheit zum Einkaufen bestand. Bert versuchte Holzkohle zu erstehen, gab es aber ärgerlich auf, als es nicht sofort klappte. Ein Glück, dass er in Sousse doch einen ordentlichen Gaskocher erstanden hatte. Ob es allerdings wirklich überall Gaskartouchen geben würde, blieb fraglich. Aber warum sollten wir schließlich nicht auch wie die ersten Entdecker über holzgenährten Feuerstellen unser Essen bereiten? Es würde spaßig sein, dachten wir.
Wir erwarteten das »wahre Afrika«. Tunesien kenne doch jeder Mittelklasseurlauber, befanden wir hochtrabend.
Mit jedem Meter, der unter »Uhurus« Zwillingsrädern dahinzog, lösten wir uns mehr vom nördlichen Rand des Kontinents. Wir drangen langsam in sein Inneres vor wie Würmer, die ihre gewundenen Gänge in den Erdkörper graben, mühsam Körnchen für Körnchen beiseiteräumend. Unsere Körnchen waren die Kilometermarken, und es waren viele, viele.
Mit dem Sinken des Sonnenballs näherte auch unser Tageswerk sich seinem Ende. Vorne im Führerhaus diskutierten Philipp, der sich mit Bert nun an den Lenkrädern von »Uhuru« und »Tarzan« abwechselte, Dietmar und Peter vielleicht über die Wahl eines Lagerplatzes, wir, hinten, hörten nichts. Summen, undeutliches Gemurmel aus Walkman-Kopfhörern und Motorenlärm begleiteten träges Dösen.
Wir würden im Gelände nächtigen, zuvor ein frugales Abendmahl fabrizieren, denn Bert hatte allerlei eingekauft. Rötlich gefärbt trug der schmale Horizont den verglühenden Sonnenball wie ein Juwel auf milchigem Samtband. Die Wärme, die von Polstersitzen und von der Tageshitze aufgeheizten Seitenwänden über müde Gesichter strömte, uns einlullte, verbündete sich mit abendlich schwerer Stimmung. Nur zufällig streifte unser Blick unter schläfrigen Lidern hervor sickernd die vorüberziehenden Palmen und weißgekalkten Häuser, geflochtenen Zäune und Zypressen.
Aufgeregt erwartet, doch allzu fern der Straßenspur, boten sich uns die beiden riesigen Salzseen Chott El Jerid und Chott El Gharsa als kaum erkennbare, silbrig glänzende Bänder am nachmittäglich erhitzten Horizont dar, die der eine oder andere gar versäumte. Bert dachte gar nicht daran, die Seen anzufahren, bloß Hitze und Sand, beschied er, und wir begehrten nur kurz auf, immer noch erschöpft von nachmittäglichen Umtrieben in Gafsa. Schläfrige Trägheit besiegte bald alle Schaulust ... für Stunden.
... jemand schnarchte, als ich aus dem Dösen schreckte. Der Wagen erzitterte, die Monotonie geriet aus glatter Spur. Wie Tiere, die spüren, dass außerhalb ihrer Höhle etwas vor sich geht, das von Wichtigkeit für ihre Existenz sein könnte, rührten müde Körper sich, richteten sich auf, um zu ergründen, was den gleichförmigen Trott unterbrach. An das Holpern hatten wir uns bereits gewöhnt. »Uhuru« rollte langsamer als seit Stunden über sandverwehten Straßenlauf. Brommel suchte wohl nach Markierungen im Gelände.
»Was gibt ’s?« zerriss Ilses aufgeschreckte Stimme vollends die Wolke trägen Dösens. Finger zogen an den Fensterriegeln, Augenpaare suchten im rötlichen Halbdunkel nach Anhaltspunkten für die Verzögerung. Abrupte Bremsmanöver, knirschende Schaltvorgänge und neuerliche, zögernde Beschleunigung mit spürbarem Radeinschlag erschütterten »Uhuru«s Insassen. Berts Stimme erscholl aus dem »Tarzan« hinter uns.
»Flippst du jetzt aus?« röhrte Armin in den Interkomman-Rüssel, als der ganze Wagen heftig nach links absackte, sich schnaufend wieder aufrichtete und rasselnd in die Waagrechte zurückfiel. Aller Schlaf floh, eisig verscheucht, aus schlaffen Gliedern, als wir um Gleichgewicht rangen. Der erschreckte Schrei, unisono aus mehreren Kehlen, irrte noch durch die Luft. Eine Sandkuhle? Und was für eine Sandkuhle, vermutlich. Missmutig heulend reagierte der Wagen auf Brommels Tritt auf das Gaspedal. Knirschen im Getriebe. Heftige Stöße zwangen ausgestreckte Hände, nach Halt zu tasten. Es war fast dunkel im Wagen. Licht gab es nur bei völligem Stillstand der Fahrzeuge.
»Ach Gott!« kreischte Ilse.
»Hoppala!« lachte Anita, und ich beneidete sie nicht um ihren Platz über der Achse. Jemand fluchte, und ansonsten erhob sich erregtes Gemurmel.
»Schaut euch das an, schaut euch das an!« rief Karli aus, aber seine Stimme klang begeistert, keineswegs angstvoll. Und er hatte recht mit seiner Begeisterung. Statt tiefer Abendfinsternis herrschte milchige Helligkeit außerhalb unserer vibrierenden Höhle. Fast Vollmond. Zum Greifen nahe wuchsen Dattelpalmen wie Scherenschnitte aus dem Mondlicht, überzuckert mit feinstem Sand ... mehlbestäubt ... wunderschön, gleich Traumgebilden. Das Fluchen und die röhrenden Kampfgeräusche der Wagen irritierten unseren Sinn für das Normale, Gewohnte. Wir wagten kaum daran zu denken, dass es hier gang und gäbe sein konnte, mit den Wagen in Schwierigkeiten zu geraten. Und ... waren wir nicht schon in ernster Gefahr? Alle Selbstsicherheit zivilisierter Egoisten geriet erstmals ins Wanken. Das hier war nicht unser überschaubares Zuhause, dessen Tücken wir einschätzen konnten. Auf was hatten wir uns da eingelassen? Inga, die schräg mir gegenüber auf der anderen Seite des Ganges sah, klammerte sich an den Sitz. Brommels Arm winkte heftig aus dem Seitenfenster, ich konnte ihn von meinem Platz aus gut erkennen.
Die abendliche Weite verbarg sich hinter einem Palmenwald. Sandverwehungen wuchsen kaum zwei Meter von beiden Seiten des Wagens entfernt aus dem Dickicht aus niederen Palmstämmen und herabhängenden Palmwedeln und sahen aus wie aus süßer, zäher Creme modelliert. Feine Dünengrate und verhärtete Spuren von Sandrinnsalen wirkten wie märchenhafte Schöpfungen romantischer Künstler, sanft geschwungen, ziseliert und weich wie Tortenverzierungen.
»Da vorne ist ein Campingplatz,« wusste jemand. Und eine Stimme fragte mürrisch, wer hier wohl so oberschlau sei. Wir streckten unsere Köpfe aus den gefährlich engen Fenstern.
»Köpfe einziehen, ihr Idioten!« brüllte Gerry von irgendwoher. Hinter »Uhuru« tastete sich der hochaufgerichtete »Tarzan« soeben über eine kleine Bodenwelle herab, dieselbe, die »Uhuru« unter Brommels sportlichem Fahrstil als Sprungschanze gedient hatte. Niemand zog den Kopf ein. »Tarzan« folgte seinem Bruder in tiefer Zwillingsreifenspur um eine Kurve, die Hauptstraße verlassend. Wie zitternde Finger tasteten seine Scheinwerferstrahlen nach »Uhurus« Hinterteil. Wir standen im Begriff uns mitten in die Sandberge zwischen uralten Palmen hineinzuwühlen. Noch niemals hatte jemand von uns derartige Straßenverhältnisse erlebt.
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