Betratos hatte Eolanee mit sich gezogen und erkannt, dass die kupferfarbenen Männer ihnen den Weg zu den Häusern abschnitten. Vielleicht hätten sie es dennoch geschafft, eine der Fangwurzeln zu ergreifen und den Schutz eines Kegelbaums zu finden, aber der Sechsjährige empfand Furcht beim Anblick der Fremden. Er wollte ihnen instinktiv ausweichen und zog Eolanee mit sich, entgegengesetzt jener Richtung, aus der die Männer kamen. So entfernten sich die Kinder von der Siedlung. Sie rannten über den weichen Boden der Lichtung, auf dem die Kegelbäume standen und hasteten auf die normalen Bäume zu, die in einigem Abstand wuchsen. Diese konnten nicht den Schutz eines Kegelbaums bieten, aber zwischen ihnen wuchsen Dornbüsche. Diese hatten dichte Blätter, die Sichtschutz boten und lange Stacheln, die sie wehrhaft machten. Betratos hoffte, dass er und Eolanee sich zwischen ihnen verbergen konnten und so zog er die Freundin verzweifelt mit sich. Während sie darauf zuhasteten, wurden die Schreie des Entsetzens hinter ihnen seltener. Dafür waren die triumphierenden Rufe der Berengar zu hören, die ihre Beute sichteten.
Die beiden Kinder waren noch lange nicht in Sicherheit, das spürte der Junge.
Eolanee ließ sich einfach mitziehen. Sie sah kaum etwas, war geblendet von Tränen. Sie schluchzte verzweifelt, rief nach ihrer Mutter und ihrem Vater.
„Sei still“, schrie Betratos. „Sie hören dich und dann kommen sie hinter uns her und werden uns einfangen.“
Der Anführer der Berengar stand in der Nähe eines Kegelbaums und musterte die mächtige Pflanze. Ihre Fangwurzeln bewegten sich unruhig, als spüre der Baum, dass etwas Furchtbares vor sich ging. Aber er selbst war nicht bedroht, kein Enoderi forderte seine Hilfe und so blieb der Baum passiv.
„Lutrus, wie sieht es aus? Haben wir gute Beute gemacht?“
Ein schlanker Mann trat aus einer Gruppe hervor und kam zu seinem Anführer herüber.
Die Männer sahen sich alle in gewisser Weise ähnlich. Eine kurze Jacke und eine eng anliegende Hose, beides aus schwarzgrauem Leder, dazu wadenlange Stiefel und ein breiter Gürtel in dunklem Rotbraun. Auf den Köpfen trugen sie einfache Topfhelme, deren Metall mit Farbe und Schmutz beschmiert war, damit sie das Sonnenlicht nicht reflektierten. Ihr Haar trugen sie in drei geflochtenen Zöpfen. Zwei kurze, rechts und links und einen sehr langen Nackenzopf, der bis zum Gürtel hinab reichte. Am Gürtel war hinten eine große Ledertasche befestigt, in der die Berengar Proviant mitführten. Über der Schulter trugen sie zwei große Köcher. Beide enthielten eine Nährstofflösung und die Schlingenpflanzen. Die halbsymbiotischen Lebewesen waren Teile der Farsabäume, die nur im Land der Berengar vorkamen und ihnen seit ewigen Zeiten als Waffen dienten.
Metall war ein seltenes Gut im Reich der Clans und sie schmiedeten nur wenig davon zu stählernen Klingen. Einen Dolch, eine Axt oder sogar ein Schwert zu besitzen, bedeutete hohes Ansehen bei den Berengar und war nur bedeutenden Männern und Frauen vorbehalten. Der Anführer der Berengar gehörte zu dieser Gruppe und fiel in doppelter Hinsicht auf. Er war nicht nur sehr groß und schlank, sondern hatte auch sonnengelbes Haar. Jenes der anderen Männer war meist Schwarz oder von sehr dunklem Braun. Sein Körper war schlank und doch muskulös, und an dem ledernen Waffengurt hing eines der kostbaren Metallschwerter.
Lutrus, der seinem Anführer berichtete, war ein Krieger dessen Gesicht die Furchen des Alters und die Narben von Kämpfen zeigte. Er grinste erfreut und eine der Narben gab seinen Zügen dabei ein sardonisches Aussehen. „Ich denke, wir haben sie alle erwischt. Dieser Händler, den wir uns vorgenommen haben, hatte Recht. Dieses Volk verspricht reiche Beute. Eine Menge ansehnlicher Weiber und keinerlei Gegenwehr. Wenn sie eine kupferfarbene Haut und grüne Lippen hätten, wären sie glatt eine Versuchung. Die sind alle gerannt wie die Hasen. Ich glaube, sie haben gar nicht begriffen, was da geschehen ist.“
„Es soll ein friedliches Völkchen sein, welches nichts von Gewalt hält.“ Der Anführer spuckte aus. „Vielleicht haben wir ihre Meinung jetzt geändert. Ist jemand entkommen?“
Lutrus schüttelte den Kopf. „Ich habe einige gute Männer zum Ausgang des Tals geschickt. Hier kommt nichts Lebendes heraus, wenn wir es nicht wollen.“
„Gut. Ich will sicher sein, dass kein unliebsamer Zeuge am Leben bleibt. Je weniger von uns berichten, desto unvorbereiteter werden die anderen sein, wenn wir deren Dörfer besuchen. Such mit ein paar Männern den Wald ab. Vielleicht versteckt sich noch jemand.“
„Wir waren zu schnell. Keiner ist entkommen.“
„Ich will sicher sein.“ Der Anführer sah seinen Unterführer forschend an. „Du zögerst? Was ist?“
Lutrus zuckte die Schultern und deutete auf einen der Kegelbäume. „Diese Baumkegel gefallen mir nicht. Die hängenden Wurzeln sehen aus, als wollten sie nach uns greifen. Ich glaube, sie leben ebenso wie unsere Farsabäume.“
„Die Wurzeln hängen fest an den Bäumen. Bleibt von ihnen fern, dann kann nichts passieren.“
„Jedenfalls sind mir diese Bäume unheimlich. Wenn es denn überhaupt welche sind. Sie sehen ganz anders aus und stehen auch abseits der normalen Bäume.“
„Habt ihr dort schon nachgesehen? Bei den anderen Bäumen?“
„Ich schicke ein paar Männer hinüber.“
„Nein, Lutrus, geh selber.“ Der Anführer lächelte sanft. „Ich will mir sicher sein, dass niemand übersehen wird. Was meinst du, wie viele haben wir erwischt?“
„Rund fünfzig Weiber, die einen guten Preis bringen werden. Knapp dreißig Kinder, von denen es wohl nur Zwanzig über das Gebirge schaffen.“
„Das hat sich gelohnt. Und jetzt such den hinteren Wald ab. Wir haben, was wir wollten und ich denke, wir sollten bald wieder verschwinden. Aber ich will keine Zeugen zurücklassen, die von unserem Eindringen berichten können.“
Lutrus nickte, winkte drei Männer zu sich und stapfte dann über den Grasbewachsenen Boden. Er war erleichtert, die ihm unheimlichen Kegelbäume hinter sich lassen zu können. Diese Pflanzen gefielen ihm nicht. Sie wuchsen falsch herum und sie hatten diese langen, herabhängenden Dinger, die an Haarzöpfe erinnerten und die sich ständig bewegten, als suchten sie etwas. Dass mit diesen komischen Kegeldingern etwas nicht stimmte, bewies für ihn auch die Tatsache, dass kein richtiger Baum in ihrer Nähe wuchs. Nein, ihm war ein Baum mit normalen Nadeln und Blättern weit lieber, auch wenn ihm der Gestank der Pflanzen unangenehm war.
„Kommt schon, Männer, beeilen wir uns. Je eher wir aus diesem verdammten Grünzeug heraus sind und wieder zwischen den Felsen der Heimat sind, desto besser.“
„Hier werden wir Niemanden finden“, knurrte einer der Berengar. „Wir haben sie alle erwischt.“
„Und wenn nicht? Du weißt, wie Han-Keltor reagieren wird, wenn uns jemand entkommt.“
„Na schön, stochern wir ein bisschen in dem Grünzeug herum. Finden werden wir dennoch nichts.“
Betratos hatte Eolanee inzwischen immer weiter mit sich gezerrt und fast den Waldrand erreicht, von wo aus man den südlichen Weg ins nächste Tal nehmen konnte. Als er zwischen den Bäumen hervor trat, starrte er schockiert auf mehrere Männer, die ihm den Rücken zuwandten. Vielleicht hätte er sich unentdeckt in den Wald zurückziehen können, aber Eolanee schrie auf, als sie die Fremden vor sich sah.
Diese fuhren herum und ihre Überraschung währte nur kurz.
Betratos riss seine Freundin zurück in den Schatten des Waldes, doch er war nicht schnell genug. Der Sechsjährige spürte einen harten Schlag im Rücken als einer der Fremden eine Farsawurzel warf, dann versank die Welt in ewiger Dunkelheit.
Eolanee war nun allein.
Jedes vernünftige Denken wich kreatürlicher Angst. Sie wollte zu ihrer Mutter, wollte zu ihrem Vater. Wollte fort, nur fort von diesen schwarz gekleideten Männern mit der kupferfarbenen Haut. Sie hörte Rufe hinter sich, stolperte über eine Wurzel und stürzte. Noch während sie sich aufrichtete, vernahm sie eine Stimme vor sich, die auf die der anderen antwortete.
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