Eine der Hüterinnen trat näher an den Baum. „Ich will mir eine der abgetrennten Wurzeln ansehen.“
Neredia nickte. Es war das gute Recht der Frau, immerhin wurden heute Eolanees Fähigkeiten geprüft. Sie konnte die Skepsis der anderen verstehen. Äußerlich war dem befallenen Baum nichts anzumerken und Eolanee hatte keine der Wurzeln berührt, wie man es normalerweise tun musste, um die Impulse des Baumes zu erfassen.
Als die erste Fangwurzel zu Boden fiel, trat die skeptische Hüterin näher und zog ein Messer aus der Umhängetasche. Sie führte einen kräftigen Schnitt in die Wurzel und zog die Fasern auseinander. Schon nach wenigen Augenblicken richtete sie sich wieder auf und nickte Neredia zu. „Es ist, wie Eolanee gesagt hat.“
„Gut“, meinte die andere. „Dann lasst uns in eines der Häuser gehen und sehen, wie es um ihre Fähigkeit bestellt ist, die Käfer aufzuspüren.“
Sie traten an einen anderen Baum und die Wurzelschlingen trugen sie sanft nach oben. Die Familie, deren Haus sie aufsuchten, trat respektvoll zur Seite und sah interessiert zu, wie die vier Hüterinnen den Wohnraum betraten. Erneut blieb Eolanee reglos und entspannt stehen.
Dieses Mal bestimmte sie die Richtung, indem sie sofort auf eine Wand deutete. „Dort. Ein Fressgang mit Bruthöhle. Zehn Maden und zwei Elternkäfer.“
Als der Familienvater auf Eolanees Hinweis vortrat und die Wand berührte, öffnete sie sich folgsam und schon bald wurde der besagte Fressgang mit der Bruthöhle sichtbar. Die beiden großen Käfer reagierten sofort. Während sich der eine in den Gang zurückziehen wollte, sprang der andere dem Mann entgegen. Dieser reagierte blitzschnell. Er trug die dicken Lederhandschuhe, die einen gewissen Schutz vor den Kieferzangen der Schädlinge boten. Dennoch zwickte der eine den Mann auf schmerzhafte Weise, bevor er in dem Maschenkorb landete, den die Frau bereithielt. Der Käfer im Fressgang kam nicht weit, wurde gepackt und ebenfalls in den Korb gesteckt. Dann folgten die fetten Maden, die sich schon bald zu gefräßigen Käfern entwickelt hätten.
„Die Hornlöwen werden sich über das zusätzliche Futter freuen“, meinte Neredia. Der Stolz auf Eolanees Leistung war unverkennbar.
„In diesem Jahr gibt es viele Käfer.“ Die junge Frau lächelte ihre Ziehmutter an. „Bergos meint, die Hornlöwen werden schon zu fett von dem reichlichen Futter.“
„Er sollte seinen Hornlöwen öfter satteln und ausreiten, dann wird das Tier auch nicht so dick.“ Neredia lachte auf. „Offen gesagt, Eolanee, meine Liebe, Bergos hat selbst ein wenig zugelegt. Ihm würde die Bewegung ebenfalls nicht schaden.“
Die anderen stimmten in das fröhliche Lachen, in dem nichts Boshaftes lag, ein.
Die Familie dankte ihnen und die vier Frauen verließen das Haus.
Neredia war gespannt auf das Urteil der anderen Hüterinnen, obwohl sie eigentlich keinen Zweifel hatte. Beide Frauen lächelten Eolanee an und legten ihr die Hände auf die Schultern. Es war beschlossen.
Eolanee würde in den Kreis der Baumhüterinnen aufgenommen werden.
Eine von ihnen prüfte den Stand der Sonne. „Wir haben Zeit genug für die Vorbereitungen. Wenn es dir recht ist, Neredia Ma´ededat´than, werden wir die Zeremonie in zwei Wochen vornehmen. Dann können die meisten der anderen Hüterinnen aus den Tälern anreisen und daran teilnehmen. Es ist ein Grund zur Freude für alle Enoderi und besonders für Ayanteal. Es wird Geselligkeit und Tanz geben.“
Die Freude war groß, vor allem bei Bergos Ma´ara´than, der sich darin bestätigt sah, dass Eolanee über bemerkenswerte Gaben verfügte. An diesem Abend saßen die drei zusammen und der Führer der Auraträger gestattete der jungen Frau zum ersten Mal den Genuss von gegorenem Beerensaft.
„Trink nur wenig und trink langsam“, riet Bergos. „Wer den Saft nicht gewöhnt ist, der verliert schnell seine Sinne und die aufrechte Haltung. Du bist jetzt bald eine richtige Baumhüterin und die Bewohner von Ayanteal sollen keinen falschen Eindruck von ihrer künftigen Ma´ededat bekommen.“
Eolanee stieß mit ihnen an und verzog freudig das Gesicht, als sie den Saft kostete. „Das schmeckt gut. Es ist sehr süß. Ein Nektar der Göttin.“
„Warte bis zum kommenden Morgen“, lachte Bergos auf. „Dann wirst du es für ein Gebräu der Finsternis halten. Wenn man zu viel davon trinkt, dann wird einem übel und der Kopf fängt an zu schlagen. Glaube mir, mein Kind, das ist kein angenehmes Gefühl.“
„Dennoch, es schmeckt.“ Eolanee lächelte und leerte ihren Becher.
Bergos seufzte und schenkte ihr nach. „Nun ja, gegen ein gelegentliches Hämmern im Kopf ist wohl nichts zu sagen und wir haben wirklich einen Grund zum feiern. Ich freue mich schon auf die Zeremonie. Unsere kleine Eolanee wird eine richtige Baumhütern.“
Neredia lächelte sanft. „An jenem Abend wird es Musik und Gesang geben. Es wird höchste Zeit, dass Eolanee ein paar Tanzschritte lernt.“
Eolanees Augen hatten bereits einen verdächtigen Schimmer. „Oh, die hat Bergos mir bereits beigebracht.“
„So, hat er das?“ Neredia sah den alten Auraträger forschend an. Dann lachte sie auf und musterte Eolanee zärtlich. „Deine armen Füße. Er wird sie ordentlich platt getreten haben. Ich kann mich erinnern, wie er vor drei Jahren mit mir tanzte. Ein unvergessliches Erlebnis. Vor allem für meine Zehen. Sie haben noch Wochen später an ihn gedacht.“
Jetzt musste auch Eolanee lachen und Bergos, der ein wenig errötet war, stimmte schließlich von Herzen ein.
Am Morgen hatte die junge Frau üble Kopfschmerzen und schwor sich, nie wieder gegorenen Beerensaft zu trinken. Bergos erging es nicht besser, aber er war aus Erfahrung vorsichtiger mit seinem Schwur.
Die Tage bis zur Zeremonie vergingen wie im Fluge.
Inmitten des Waldes aus Kegelbäumen wurde mit den Vorbereitungen begonnen.
Der große Versammlungsplatz bot vielen hundert Menschen Raum, aber die Weihe der neuen Baumhüterin würde auch Bewohner der anderen Täler anlocken. Die Menschen wussten Geselligkeit und Tanz zu schätzen. Bei der Anzahl der Gäste würde man auch den Raum zwischen und unter den Kegelbäumen nutzen müssen. Wenn die Zeit gekommen war, mussten die Bäume einen guten Teil ihrer Fangwurzeln schrumpfen, um genug Raum zu geben. An Speise und Trank würde es nicht fehlen, da die Ernte gut gewesen war.
Am frühen Morgen des Weihetages begannen die Veränderungen auf dem Versammlungsplatz. Wurzeln wuchsen in einem weiten Ring aus dem Boden. Immer höher und höher und sie begannen sich aufeinander zuzuneigen. Als sich die Spitzen berührten, begannen Blätter zu sprießen. So entstand zunehmend ein luftiger und grüner Baldachin. Frauen eilten umher und banden bunte Tücher und Stoffstreifen an die Zweige. Andere stellten Schalen auf, in denen am Abend die Glühkäfer ihr Licht spenden würden. Die Männer brachten Tische und Bänke und stellten sie in weitem Kreis auf. Ihre Beine verbanden sich mit dem Wurzelwerk des Waldbodens und die Möbel wurden zunehmend von wundervollen Mustern und Farben überzogen.
Steinplatten wurden gebracht, damit man die großen Feuerstellen herrichten konnte, über denen man Gemüse und Fleisch zubereiten würde. Die Enoderi schätzten Fleisch, auch wenn sie selbst nicht töteten. Ihre Jagdtrupps waren oft unterwegs und versuchten, die frisch geschlagene Beute eines Raubtieres zu ergattern oder warteten ab, bis ein altes oder verletztes Tier verendete. Meist wurde ein Bär oder anderer Räuber durch den Lärm der Jäger so erschreckt, dass er die Beute freiwillig hergab. Manchmal griff das Tier an und dann musste der Auraträger der Jagdgruppe seine Fähigkeiten einsetzen.
Abgestorbenes Holz und Torf wurden bereit gelegt. Die Jagdgruppen hatten in den letzten Tagen Erfolg gehabt und einige Tiere gefunden, die sich zum Braten verwenden ließen. Die Jäger nahmen die Tiere aus und würzten das Fleisch mit Kräutern. Gegorener Beerensaft und Gerstentrank wurden bereitgestellt und aus einigen Häusern vernahm man die gelegentlichen Klänge von Musikinstrumenten, die für den Abend gestimmt wurden.
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