Für den Auraträger Bergos und die Baumhüterin Neredia war es nicht immer leicht gewesen, aus dem trauernden Kind von einst eine fröhliche junge Frau werden zu lassen. Vielleicht hätte Bergos ihren Kummer über den Tod der Eltern mit der Kraft seiner Aura überwinden können, doch es war den Auraträgern unvorstellbar, ihre Kräfte im eigenen Volk einzusetzen. Schließlich hatte Neredia einen kleinen Schössling zu Eolanee gebracht. Eine winzige und kümmerliche Pflanze, die dem Tod näher war, als dem Leben. Die Baumhüterin hoffte darauf, dass Eolanees Verbundenheit mit der Natur ihre Instinkte ansprechen würde. Diese Hoffnung erfüllte sich und das Mädchen und die Pflanze blühten gleichermaßen auf. Nachdem die Mauer des Schmerzes eingerissen war, erhielt Eolanee wieder die Fähigkeit des Lachens zurück. Die Erinnerung an den grausamen Tag verblasste. Eolanee würde ihn niemals vergessen, aber das Leid beherrschte nun nicht mehr ihr Leben.
Bergos und Neredia unterwiesen sie in allen Dingen und Eolanee war sehr wissbegierig und ihre Fragen trieben die beiden oft an den Rand der Verzweiflung. Eolanee verstand es, die Herzen zu erobern und begegnete anderen Menschen mit einer vorbehaltlosen Freundlichkeit, doch dies war ihrer natürlichen und freundlichen Art zu verdanken und nicht, wie Bergos gehofft hatte, der latenten Fähigkeit der Aura. Sofern Eolanee über diese Gabe verfügte, so schien sie diese jedoch nicht kontrollieren und bewusst einsetzen zu können. Zwar spürte sie die Schwingungen lebender Wesen, aber die junge Frau war nicht in der Lage, sie gezielt zu beeinflussen. Gerade diese Fertigkeit machte die Aura jedoch so wertvoll und befähigte ihren Träger, feindliche Wesen in die Flucht zu schlagen. Immerhin verfügte Eolanee über eine gewisse Veranlagung und Bergos hatte die Hoffnung, diese Gabe werde sich zu einem späteren Zeitpunkt entwickeln.
Der alte Auraträger glaubte fest daran, dass sein Schützling über diese Kraft verfügte, doch er konnte sich täuschen. Er und Neredia hatten sich entschlossen, Eolanees Schulung als Baumhüterin in den Vordergrund zu stellen und ihre mögliche Befähigung als Auraträgerin nicht zu verbreiten. Der Rat der Auraträger bestärkte sie in diesem Entschluss. Ein Wesen, welches beide Gaben in sich trug, konnte Unruhe in das Volk der Enoderi bringen und die Zweifel, dass sie über beide Fähigkeiten verfügten, schienen berechtigt.
Eolanee besaß fraglos überragende Fähigkeiten als Baumhüterin. Ihr Einfühlungsvermögen in die Lebensimpulse von Pflanzen übertraf sogar die Fähigkeiten von Neredia. Normalerweise brauchte es viele Jahre, eine Baumhüterin zu schulen, bis sie so weit war, eigenständig dem Kreislauf des Lebens und den Bäumen der Enoderi zu dienen, aber in Eolanees Fall war die Ausbildung sehr viel früher abgeschlossen.
So stand Eolanee nun mit ihren siebzehn Jahren in Begleitung von Neredia und zwei anderen Baumhüterinnen, vor einer Gruppe Kegelbäume. Sie schien ganz in Gedanken versunken. Die vier Frauen hatten einen der Bäume aufsuchen wollen, aber Eolanee war unvermittelt stehen geblieben und Neredia gab den anderen ein Zeichen, zu warten. Auf den Rundgängen der umgebenden Kegelbäume standen Enoderi und sahen neugierig zu, was da geschah.
Die Gegenwart einer einzelnen Baumhüterin war für die Menschen vollkommen normal. Immer wieder mussten die Kegelbäume auf die gefährlichen Borkenkäfer abgesucht werden.
Diese Handgroßen Parasiten sonderten ein Hormon ab, welches die Wahrnehmung der Bäume trübte. Sie konnten die Insekten nicht aufspüren, bemerkten nicht einmal, wenn diese ihre Fressgänge und Bruthöhlen anlegten. Am schlimmsten war es im Frühjahr, wenn die Käfer ihre Eier legten, aus denen binnen weniger Tage die gefräßigen Maden schlüpften. Dann gab es kaum Ruhe für die Baumhüterinnen und die anderen Enoderi folgten ihren Anweisungen und entfernten die Schädlinge, wo immer sie gefunden wurden. Aber ein paar Käfer konnten sich immer verbergen und entkamen ihren besonderen Sinnen. So musste man während des ganzen Jahres nach den Parasiten suchen und der Besuch der Baumhüterinnen war in den Häusern des Volkes hoch willkommen. Es gab fast Hundert dieser besonderen Frauen und doch war ihre Zahl erschreckend gering, gemessen an der Zahl der Kegelbäume, die es zu behüten galt. Zudem war dies nicht die einzige Pflicht einer Ma´ededat. Ihre Sorge galt auch den normalen Bäumen und Pflanzen sowie den Feldern, auf denen Getreide gezogen wurde.
Der Anblick von mehreren Hüterinnen, deren Sorge gleichzeitig demselben Objekt galt, war daher höchst ungewöhnlich und die vier Frauen, die nun auf einen der Kegelbäume zuschritten, erweckten sofort die Aufmerksamkeit der Bewohner der umliegenden Baumhäuser. Wenn mehrere Ma´ededat gemeinsam tätig wurden, bedeutete dies entweder große Gefahr für einen der Bäume oder die Prüfung einer künftigen Baumhüterin.
Baumhüterinnen trugen keine besonderen Gewänder oder Kennzeichen, aber jeder Enoderi kannte sie und begegnete ihnen mit Respekt. An diesem Tag sahen die Bewohner Ayanteals sogar die Führerin der Hüterinnen, die Ma´ededat´than, in der Gruppe und bei ihr jene junge Frau, die sie in den letzten Jahren oft begleitet hatte. So war ihnen sofort bewusst, dass es sich hier um eine besondere Prüfung handeln musste.
Eolanees Augen waren geschlossen und sie schien vollkommen entspannt. Die einzige Bewegung kam von dem leichten Wind, der zwischen den Bäumen entlang strich und das dünne Gewand gegen ihren vollendeten Körper presste. Neredia wusste, dass die entspannte Haltung der jungen Frau täuschte. Sie war hoch konzentriert und ihre Sinne tasteten nach einem der Kegelbäume. Neredia hatte dies nun schon einige Male erlebt und war immer wieder aufs Neue fasziniert. Andere Ma´ededat mussten die Pflanzen berühren, um ihre Gabe einsetzen zu können, doch Eolanee konnte darauf verzichten. Ihre Gabe musste sehr stark sein und dies war der Tag, an dem die junge Frau dies auch den anderen Hüterinnen beweisen sollte. Es war ihre Prüfung und die Meinung der begleitenden Frauen würde darüber entscheiden, ob es die Zeremonie geben würde, in der Eolanee endgültig in ihren Kreis aufgenommen werden konnte.
„Er hat den Sommerfrost.“ Eolanees Stimme war leise und sanft, wie ihr Wesen.
Neredia sah die anderen an. „Welcher von ihnen?“
„Jener.“ Nun streckte die junge Frau einen Arm aus und deutete auf den betreffenden Baum. „Mehrere der Fangwurzeln sind befallen und der Sommerfrost breitet sich aus. Wir werden schneiden müssen.“
Neben den Borkenkäfern wurden die Kegelbäume auch von einer heimtückischen Krankheit bedroht. Der Sommerfrost hatte eigentlich nichts mit der Eiseskälte des Winters gemeinsam, dennoch war der Vergleich durchaus zutreffend. Es war ein schädlicher Pilz, der von den Fangwurzeln der Bäume bei der Nahrungssuche aufgenommen wurde und sich in den Saftkanälen der Pflanze ausbreitete. Der Pilz ähnelte den Eiskristallen des Winters und hatte zu seinem Namen geführt. Ein befallenes Pflanzenteil musste vom Baum abgetrennt werden. Wenn es nicht gelang und sich der Pilz unbemerkt weiter ausbreitete, verstopfte er die Saftkanäle und der Baum war dem Tod geweiht.
Eine der anderen Frauen räusperte sich. „Kannst du die befallenen Wurzeln nennen und zeigen, wie weit geschnitten werden muss?“
Eolanee nickte und schritt zu dem befallenen Baum hinüber, gefolgt von den anderen. Um ihre Hüfte trug sie einen geflochtenen Gürtel und über der Schulter eine große Tasche, aus der sie nun mehrere Stoffstreifen zog. Ohne zu Zögern knotete sie die farbigen Tücher um eine Reihe der Fangwurzeln. Die Markierungen hatten verschiedene Farben und zeigten auf, bis zu welcher Länge die Wurzeln abgetrennt werden mussten.
Auf dem unteren Rundgang des befallenen Baumes standen genug Männer und Frauen, welche die Bedeutung von Eolanees Handlung kannten. Als die junge Frau zurücktrat, holten sie Sägen und Siegelharz und stiegen in die oberen Baumebenen hinauf, um die erkrankten Wurzelteile abzutrennen.
Читать дальше