Eine junge Frau, Anfang zwanzig, mischt jetzt richtig mit. Sie trägt ein viel zu kurzes Strasssteinhemdchen, das deutlich zeigt, dass Bauch und Busen die Rollen getauscht haben. Das schreit nach dem Kosenamen 'Strassspeck'.
Diese Perle einer jeden Ruhrpott-Imbiss-Bude meldet sich zu Wort »Hömma Mädschen! Isch verklach die Airline auf Schadenersatz, weil ich durch das Rumsitzen am Flughafen einen Verdienstausfall hab. Hab isch neulisch im Fernsehen jesehen!«
Jetzt ist für mich verkehrte Welt! Meint sie, dass sie hier in Deutschland einen Verdienstausfall hat oder muss sie einen Job in Thailand antreten? Schicken wir tatsächlich schon unsere eigenen, ausgenudelten Rotlichttäubchen nach Thailand zum Anschaffen?
Immi kann mich gerade noch davon abhalten, dieser aufstrebenden Supermarkt-Kassiererin fünf Euro in die Hand zu drücken, damit sie ihrem Tageslohn nicht nachweinen muss. Blöde Schlecker-Kassentante, quasi Ar-Schlecker-Kassiererin! (Für diejenigen, die nicht wissen, was Schlecker ist: Schlecker war eine Billig-Drogerie-Kette, die während meines Schreibens leider pleite gegangen ist.)
Jetzt aber zum Wesentlichen! Her mit dem Bargeldersatz! Ein freundlicher Herr vom Bodenpersonal verteilt gegen Vorlage der Bordkarte die Gutscheine. Als Zeichen, dass man einen Gutschein erhalten hat, markiert er die Bordkarte mit einem 'G' für Gutschein. Clever!
Dann sind wir endlich dran! Immi und ich halten jeder einen Wertgutschein in Höhe von gefühlt fast einer Million Euro in der Hand. Genau genommen sind es fünfundzwanzig Euro. Völlig fassungslos durch diesen unerwarteten Reichtum gucken wir uns an und schmieden sofort Pläne, was wir damit anstellen. Ich kenne mich mit Geld aus und rufe zu Besonnenheit auf.
Immis erster Vorschlag »Ich kaufe die Parkstraße im Monopoly-Spiel!«
»Ok, dann nehme ich alle Leopoldstraßen in München.«
»Oder soll ich lieber eine Handtasche im Prada-Shop kaufen?«
»Aber nur, wenn ich den Audi aus der Abflughalle bekomme.«
Immi wieder »Vielleicht sollten wir auch für die Reise vorsorgen und einen 25-Kilo-Sack Studentenfutter kaufen.«
Ich kontere »Und was wäre mit einer eigenen Airline, damit wir allein nach Bangkok fliegen können? Oder wir spenden das Geld unserer Airline, damit sie mal den einen oder anderen Flughobel zur Inspektion bringen können und zumindest unser Rückflug in zwei Wochen reibungslos klappt.«
Aber Spaß beiseite. Wir entscheiden uns dafür, der rollenden Minibar an Bord des Flugzeugs kein Vertrauen zu schenken, und uns Alkohol zu kaufen. Gaumen, die von zahlreichen Billigfuselattacken mit Hornhaut überzogen sind, erlauben es uns, den richtig günstigen Sprit zu kaufen. Schnell haben wir ein paar Flaschen im Sack. Außerdem bleibt noch Geld für eine Runde Backfisch bei Gosch.
Zurück am Schalter, halten wir zunächst vollgefressen und leicht angedüselt ein Schläfchen. Ich penne im Sitzen und Immi liegt quer über drei Sitze mit dem Kopf auf meinem Schoß.
Wir wachen auf, als etwas in Bewegung zu geraten scheint. Einige entnervte Urlauber ziehen frustriert von dannen – storniert! Also nicht der Flug, sondern deren Reise. Die können nicht mehr! Wir dagegen haben die Ruhe weg, genehmigen uns noch ein Tässchen Hopfenkaltschale und schlummern wieder weg.
Dann geht plötzlich alles ganz schnell. Hektisch wuseln alle um uns herum. Scheinbar ist der Startschuss nun doch gefallen. Es kommt uns vor, als seien die Platzreservierungen aufgehoben und man müsse sich, wie beim Konzert einer Teenieband, einen guten Platz sichern, indem man mit möglichst viel Ellenbogeneinsatz an den anderen Urlaubern vorbeiprescht.
Vorne an der Bordkartenkontrolle ist dann leider auch schon Schluss mit der Rennerei. Es war nämlich bislang nur der Aufruf, dass es 'gleich' losgehe. Die Herde sammelt sich daher in einer großen Traube vor der Dame, die unsere Bordkarten kontrolliert.
Es ist 19:00 Uhr und der Flieger steht bereit zum Besteigen. Wir sind uns unserer Plätze sicher und schlendern gemütlich hinter den Fluggroupies her, in Richtung Außenbereich des Touristenknäuels.
Durch die Lautsprecherdurchsage der Dame vom Bodenpersonal erfahren wir, dass zunächst alle Passagiere der Sitzplatzreihen 34 bis 56 an Bord gehen sollen. Diese Aussage veranlasst nahezu alle Passagiere an unserem Gate, zum Schalter zu drängeln, um auch ja als Erster an Bord zu sein. Alle... bis auf zwei angetrunkene und müde Ausnahmen, Immi und mich.
Mir ist schon bei früheren Flügen aufgefallen, dass grundsätzlich alle Reisenden ganz zufällig in den hintersten Reihen sitzen und somit das Flugzeug zuerst betreten dürfen. Wie machen die Airlines das nur, dass wirklich jeder im hinteren Teil des Flugzeugs sitzt. Bekommt denn so ein hecklastiges Flugzeug überhaupt noch den Hintern hoch?
Eine weitere Frage, die sich beim Betreten eines Flugzeugs stellt, ist: „Wie viel Handgepäck ist notwendig, um in der Kabine einen gewissen Wohlfühleffekt zu erzielen. Damit meine ich nicht die Geschäftsreisenden, die für eine Übernachtung keine Lust haben, einen Koffer einzuchecken und deshalb von der Zahnbürste bis zum Schlafanzug alles in überdimensionierten Aktenkoffern transportieren. Nein, ich meine den gemeinen Touristen auf einem Mittel- oder Langstreckenflug. Da werden Koffer als Handgepäck deklariert, die so groß und schwer sind, dass der Reisende sie mit einem Gepäckwagen bis zum Gate schieben muss, weil kein Mensch die Dinger mehr heben kann. Im engen Flugzeuginneren versuchen die Gepäcksüchtigen dann, ihr kleines Mitbringsel in die obere Gepäckablage zu bugsieren. Da wird anderes Gepäck geräumt, mit den dreckigen Rollen über fremde Jacken geschrammelt, und Laptops im hinteren Bereich des Faches werden förmlich zerdrückt, um erst Minuten später festzustellen, dass der Koffer einfach nicht hinein passt.
In vielen Fällen findet sich unter Aufwendung der Kräfte von drei Flugbegleiterinnen dann doch noch ein Fach, in das man den Koffer quetschen kann. Die Klappe des Fachs wird dafür derart verbogen und gespannt, dass die Betätigung des Öffnungshebels dem Drücken eines Gewehrabzugs gleichkommt. Nur, dass man hier keine Kugel, sondern Handgepäck durch die Kabinendecke schießt. Andere Gäste bekommen dann zwar kaum noch ihre Jacke in diese Ablage, aber wer zuerst kommt, mahlt zuerst und wer als erstes an Bord kommt, hat alle Rechte.
Dadurch entsteht vermutlich die Angst, sein Handgepäck mit einer Frachtmaschine nachbringen lassen zu müssen, wenn man zu spät an Bord kommt. Da ist es ja nur logisch, vorzugeben, genau in dem Bereich zu sitzen, der als Erstes für das Boarding aufgerufen wird.
Einige, die sich gerade noch eilig an einem vorbei geschoben haben und sich dann sehr zeitaufwendig in der dritten Sitzreihe einrichten, bemühen sich immerhin darum, ein peinlich berührtes Gefühl zu vermitteln, indem sie Dinge sagen, wie »Huch, ich sitze ja doch hier vorn.« In anderen Fällen beugen sich diese Sitzplatzgeier gönnerhaft vor, um andere an sich vorbei zu lassen, die tatsächlich ganz hinten sitzen. Dabei merken sie nicht, dass ihr Kopf zwar aus dem Weg ist, ihr Hintern aber weit in den Gang hineinragt und ein Durchkommen unmöglich ist. Genervt wird der Kopf geschüttelt und in Ruhe damit fortgefahren, sein Hab und Gut aus dem überdimensionierten Handgepäck auszupacken, um für alle Eventualitäten des Fluges gerüstet zu sein.
Um uns nichts von alldem vorwerfen lassen zu müssen, steigen Immi und ich als letztes ein. Wir gelangen zügig zu unserem Platz hinter der Trennwand zur ersten Klasse, direkt an den Toiletten. Die riechen jetzt schon, als wären sie in den letzten Stunden von sämtlichen Mechanikern mit Magen-Darm-Problemen hart rangenommen worden. Ich sitze am Gang und habe direkten Blick in die Luxusklasse, wo ich völlig ungläubig unsere Blitzbirne Strassspeck entdecke. Kann es sein, dass diese hohle Frucht wirklich einen Flug in der ersten Klasse gebucht hat. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie das nur verwechselt haben kann. Vermutlich eine reine Gewohnheitssache, weil sie zu Hause im Supermarkt auch immer an der ersten Kasse sitzt. Kasse oder Klasse, wo ist da schon der Unterschied?
Читать дальше