„Kann gut sein. In meiner Kindheit war es jedenfalls immer ziemlich kalt im Haus. Heizung sparen! Gut, dass ich es garantiert nicht erbe. Auch nicht mit Nathalie zusammen. Er hat bestimmt eine Möglichkeit gefunden, wozu hat er denn diesen Anwalt? Ich glaube, er hat uns damals was unterschreiben lassen, dass wir gegen diese monatliche Zahlung auf alle weiteren Ansprüche verzichten.“
„Ernsthaft? Haben Sie dieses Schreiben noch?“
„Bestimmt“, antwortete ich erstaunt. „Wollen Sie das etwa sehen?“
Als beide nickten, erhob ich mich seufzend und kramte den Ordner mit Unterlagen hervor. Nach längerem Blättern fand ich ein noch richtig maschinegeschriebenes Schriftstück, dass Vaters zackige und meine noch arg schulmädchenhafte Unterschrift trug. Sogar zwei Durchschläge! Ich nahm einen heraus und drückte ihn der Kerner in die Hand. „Da, bitte! Glauben Sie mir jetzt?“
Sie studierte das Dokument stirnrunzelnd, dann sah sie auf. „Glauben Sie ernsthaft, dass das rechtlich bindend ist?“
Allmählich langte es mir. „Ich bin Betriebswirtin, keine Juristin. Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal. Wenn er auf Kastners Beratung verzichtet hat, dann ist es vielleicht juristischer Blödsinn – aber das ist mir doch egal. Sollte ich wirklich wider Erwarten die Alleinerbin sein, schlage ich die Erbschaft aus, ich will Vaters blöden Krempel nicht. Vor allem dieses entsetzliche Haus nicht! Himmel, schauen Sie sich doch um, hier gibt es nichts, was ich vor meiner Volljährigkeit schon besessen hätte!“
„Wie das?“
„Alles umgehend ausgetauscht. Ich hab sogar das Sparbuch sofort auf eine andere Bank übertragen lassen, alle Schulhefte weggeschmissen, die Bücher durch Neuauflagen ersetzt, und Kinderfotos hatten wir sowieso nicht. Nichts hier ist von der Gruft verseucht – glauben Sie, das will ich ändern?“
Die Kerner seufzte, trank ihren Kaffee aus und erhob sich. „Tja, für heute war´s das wohl. Glauben Sie, Ihre Schwester ist jetzt zu Hause?“
„Keine Ahnung. Tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht weiter helfen konnte.“
„Ach, sagen Sie das nicht. Ein klareres Bild haben wir jetzt zumindest gewonnen.“
„Und ich bin immer noch Ihre Hauptverdächtige?“
Grünbauer grinste frech, und die Kerner spulte den Standardspruch von wegen Wir verfolgen alle Spuren ab. - Jaja.
Ein richtig blödes Wochenende, zog ich am Montag an meinem Schreibtisch Bilanz. Besuch von der Polizei, endlose Gespräche mit Nathalie, die auch zu nichts geführt hatten, teilnahmsvolle Anrufe von Julia und Bernie, die in den Nachrichten gehört hatten, dass der bekannte Unternehmer Hartmut Lamont von einem oder mehreren Unbekannten in seiner repräsentativen Hentinger Villa erschossen worden war (repräsentativ? Ha!), manisches Aufräumen, Putzen, Waschen und Wegschmeißen. Ich hatte tatsächlich die ganze Wohnung nach etwas abgesucht, das mich an die ersten achtzehn Jahre meines Lebens erinnerte, aber nichts gefunden. Sogar die Geburtsurkunde hatte ich mir bei Studienbeginn neu ausstellen lassen. Kein Schmuck, kein Teddy, keine Kinderbücher, kein einziger Legostein. Hatten wir eigentlich überhaupt Spielzeug gehabt? Mussten wir wohl, aber das lag alles unter einem merkwürdigen Nebel.
Nachdem meine Suche nach etwas, was ich so richtig mit Genuss vernichten konnte, erfolglos geblieben war, hatte ich mir frustriert eine große Pizza mit extra viel Knoblauch kommen lassen und schmeckte jetzt immer noch das Essen von Sonntagabend. Wenigstens war die gelbe Wand ziemlich gut gelungen.
Und hier waren alle mit bedripsten Gesichtern herumgelaufen und hatten ganz offensichtlich überlegt, ob und wie sie mir kondolieren sollten. Frau Schneider aus der Personalabteilung hatte mich eindeutig giftig gemustert, weil ich nicht Schwarz trug, aber ich hatte nur ein schwarzes Kostüm, und das brauchte ich für die Beerdigung. Irgendwann würden sie die Leiche – seltsam, an Vater als Leiche zu denken – ja wohl freigeben!
Ich brütete unkonzentriert über dem neuen Anzeigenaquise - Konzept, das mir zunehmend verfehlt vorkam, sortierte die Stifte im Köcher neu, warf zwei ausgeschriebene Marker weg, strich im Konzept einige Fehler an, blätterte durch die Post (konnte fast alles gleich ins Altpapier), spielte eine Runde Freecell, bastelte weiter an dem Konzept herum, erledigte ein paar andere Vorgänge, die eindeutig schneller gingen, und war heilfroh, als die Mittagspause nahte, obwohl ich gar keinen Hunger hatte. Gabi winkte mir mit Beileid-Gesicht zu, und Max, der kleine Schleimer, hielt mir höflich die Tür auf, als ich zum Aufzug strebte. Bevor ich nach draußen verschwinden konnte, kam der Chef auf mich zu und wedelte mit mehreren großen Umschlägen.
„Frau Lamont, Frau Lamont – wo wollen Sie denn hin?“
„Mittagspause?“, schlug ich vor.
„Ach so, ja... Sagen Sie... wäre es Ihnen nicht lieber, diese Woche frei zu haben? Das Anzeigenkonzept kann ja auch Herr Körner übernehmen.“
Ich warf Max einen raschen Blick zu und sah, wie er geschmerzt das Gesicht verzog. Gute Option! „Naja... wissen Sie, nachdem ich noch dauernd von der Kripo heimgesucht werde, wäre das vielleicht wirklich das Beste... aber dann würde ich einfach Urlaub nehmen, ja? Nur diese Woche, bis dahin sind die Kripoleute bestimmt schon ein gutes Stück weiter.“
„Eben. Wissen Sie, wenn die Kripo womöglich hierher kommt und ein Anzeigenkunde...“ Seine Stimme erstarb verlegen. Ich überlegte, wann schon mal ein Anzeigenkunde hierher gekommen war statt in die Anzeigenabteilung und woran man Kerner und Grünbauer ansehen konnte, dass sie von der Polizei waren, aber ich widersprach nicht. Schließlich brauchten wir wirklich jeden Kunden - und wenn Max das Konzept machte, konnte ich mich auf etwas Besseres konzentrieren.
„Ja, wenn Sie meinen... das finde ich sehr nett von Ihnen, Herr Zwerkl.“ Ich schlug treuherzig die Augen auf. Er reichte mir die Umschläge und eine große Mappe: „Ja, und wenn Sie gerade mal Zeit haben oder sich ablenken wollen, dann wäre hier ein neues Projekt... eine Ratgeberrubrik... und hier die Sache mit der Fernsehpräsenz... ach ja, und einige Informationen, die für Sie vielleicht interessant sein könnten...“
Ich nahm alles entgegen und setzte ein tapferes Lächeln auf. Er tätschelte mir die Schulter und entfloh. Ich unterdrückte mein Grinsen, bevor ich mich zu Max umdrehte. „Na, dann komm mal mit, wegen der Unterlagen. Essen kann ich dann ja auch später.“
„Tut mir ja alles sehr Leid für dich“, murrte Max, „aber dass ich jetzt diesen Mist machen muss, finde ich schon fies.“
„Das liegt dem Zwerkl aber sehr am Herzen, da kannst du punkten. Und schau, ich hab hier schon reingeschrieben, wo meiner Ansicht nach die Fehler liegen.“
„Zur Strafe musst du dann vor die Kamera“, drohte er und nahm den Stapel Unterlagen entgegen. „Ich werde vorschlagen, dafür einen Profi zu nehmen“, entgegnete ich gleichmütig, setzte mich wieder an meinen Schreibtisch und fuhr den Rechner herunter.
Dann sah ich die Umschläge flüchtig durch. Bessere Werbung, was sonst – und einer trug nicht einmal eine Anschrift. Hatte Zwerkl mir einfach sein Altpapier eingepackt?
Ich stopfte sie alle in meine Tasche und wünschte Max frohes Schaffen, was er mit einem Grunzen quittierte. Ich musste lachen. „Da sieht man, wie hauchdünn dein viel gerühmter Charme ist! Jetzt mach dich dran, ich hab doch sowieso schon die Vorarbeiten erledigt. Und viel Vergnügen in der Sitzung. Wenn was Spannendes passiert, du hast ja meine Handynummer.“
„Wir könnten essen gehen“, schlug er vor. „Ein Arbeitsessen.“
Ich legte den Kopf schief. „Wenn deine Frau auch mitkommt?“
„Du bist so blöd!“
„Weil ich mir dieses Angebot entgehen lasse? Lieber so blöd als anders blöd. Und tschüss!“ Ich schwang mir die Tasche über die Schulter, warf einen letzten Kontrollblick auf den Schreibtisch – alles ordentlich – und verzog mich.
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