„Leider – so ähnlich wie die anderen: nicht allzu tief getroffen. Ludwig hat es einem auch nicht leicht gemacht, ihn zu mögen. Er war meistens unfreundlich, gierig, oft etwas – äh – ungepflegt und völlig ohne Interesse an anderen. Ganz ehrlich: Dass er uns beklaut hat, hat mich nur deshalb überrascht, weil es mir noch gar nicht aufgefallen war. In diesem unübersichtlichen Haus wohl auch kein Wunder.“
„Warum sorgen Sie dann nicht mal für Ordnung?“, fragte Andi – etwas taktlos, wie er selbst zugeben musste.
„Wie meinen Sie das?“ Raben wirkte gar nicht beleidigt, eher hilflos.
„Na, wie in jeder anderen WG auch: festlegen, was jeder aufräumen muss, wer sich um was zu kümmern hat, vielleicht ein bisschen renovieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese – äh – unbefriedigende Wohnsituation Schicksal sein muss.“
„Vielleicht… und Ludwig wäre ja am ehesten der gewesen, der einen solchen Plan torpediert hätte…“, dachte Raben halblaut nach.
„Überlegen Sie´s sich“, empfahl Reuchlin und nickte Liz zu.
Sie verabschiedeten sich und steuerten doch gleich den alten Kiosk am Eingang zum Prinzenpark an.
Der Inhaber war da und lugte etwas missmutig aus seinem Verschlag, während Andi und Liz sich umsahen. Auf der handbeschrifteten Tafel neben der Verlaufsluke gab es praktisch nur zwei Sorten Bier und eine Sorte Schnaps, einen billigen Kornbrand.
„Sonst führen Sie nichts?“, fragte Liz und zeigte ihren Ausweis vor.
„Wozu? Die Penner saufen doch nix anderes“, war die unwirsche Antwort.
„Sind immer die gleichen Leute hier?“
„Mehr oder weniger. Aber jetzt haben Sie da kein Glück, die schlafen noch irgendwo ihren Rausch aus. Am Nachmittag kommen dann die ersten. Meist recht junge. Die ruinieren sich ihr Leben schon ganz schön früh – und alt werden die so auch nicht.“
Reuchlin zog ein Foto von Ludwig von Raben aus der Tasche. „War der auch öfter hier?“
Flüchtiger Blick. „Klar. Der Luggi ist das. Der ist hier aber nicht so beliebt.“
„Ach, warum das denn?“ Liz machte arglos runde Augen.
„Na, weil er immer was schnorren will. Ein Bier gratis, oder gib mal die Flasche her , wer hat ne Kippe für mich . Die anderen sitzen ordentlich in der Altstadt und beschaffen sich ihr Geld und dann kaufen sie sich Kippen und was zum Trinken. Und er ist sich anscheinend zu fein, auch mal den Hut hinzuhalten. Das nehmen die anderen ihm schon übel.“
„Also wollte er nicht betteln… verflixt, wovon hat der Kerl denn eigentlich gelebt?“, überlegte Andi ärgerlich.
„Wieso eigentlich wollte ?“, fiel dem Kioskbetreiber nun auf. „Ist der Luggi tot oder was?“
„Ist er. Und wir wüssten gerne, wer das gewesen sein könnte.“
„Hm…“ Der Zeuge legte sich gemütlicher auf seinem Miniaturtresen zurecht.
„Seine Familie vielleicht?“
„Eher nicht“, ging Andi auf die Diskussion ein. „Hat ihn einer von den Gästen hier ganz besonders dick gehabt?“
Trauriges Kopfschütteln. „Nein, das war bei allen ziemlich gleich. Sie haben herumgegrummelt, Da kommt der blöde Luggi wieder und schnorrt sich durch und so. Aber sie haben nie gesagt, dass sie ihm was einbläuen wollen oder so was.“
„Hm… und er hat auch immer nur gesoffen und geraucht – also, normale Kippen? Nichts anderes?“
„Was denn anderes?“ Das klang misstrauisch.
„Na, Ludwig von Raben war ein Junkie. Hat er sich hier mal was gespritzt oder was geschluckt oder geschnupft?“
„Also, bei mir gibt´s so Zeug fei nicht, gell!“
„Das glauben wir ja auch nicht“, beruhigte Liz und lächelte vertrauenerweckend. „Er könnte sich aber was mitgebracht haben, oder?“
„Jaja, das schon. Aber mir ist da nichts aufgefallen. Schnupftabak hat er manchmal gehabt, das schon…“
„Aus so einer kleinen blausilbernen Dose?“
„Nein… er hat es in einem Stück Papier mitgebracht. Nur so ein bisschen. Und nicht geniest danach. Eigentlich komisch, oder?“
„Vielleicht war das Koks“, sagte Andi zu Liz und dem Kioskbetreiber.
„Mei, glauben Sie echt? Ich will aber nicht, dass das hier so ein Rauschgifttreffpunkt wird! Hier gibt´s nur legales Zeug!“
*
„Was soll ich Ihnen denn noch groß erzählen?“, fragte Sophie und versuchte, nicht sehnsüchtig die Akte Graeser anzuschauen. Wären sie gestern doch bloß nicht Fritzis lebensuntüchtigem Dozenten begegnet! Sie könnte jetzt so schön einen Medienauftritt für Graeser entwickeln…
„Wir haben den armen Kerl und seine schrecklichen Geschwister gerade mal gestern Abend kennengelernt. Also wissen wir gar nichts. Natürlich könnte es sein, dass meine Schwester ein paar Details mehr kennt. Vielleicht hat er sich ja im Seminar mal ausgeweint… das müsste aber schon ein bisschen her sein, wir haben seit einem Monat Semesterferien…“
Katrin grinste sie an. „Ich weiß.“
„Klar, sowas vergisst man nicht…. Womit könnte ich Ihnen denn jetzt weiterhelfen?“
„Schildern Sie mir einfach nur Ihren Eindruck von den einzelnen Familienmitgliedern. Vielleicht gewinnen wir dabei doch einen neuen Aspekt. Ich zeichne das Gespräch auf, einverstanden?“
„Kein Problem.“
Sophie begann zu erzählen, hatte aber nicht das Gefühl, irgendetwas Neues beitragen zu können. Dem frustrierten Gesichtsausdruck auf der anderen Seite des Schreibtischs zufolge trog dieses Gefühl sie auch nicht.
„Das wissen Sie alles schon, gell?“, sagte sie dementsprechend am Ende.
„Stimmt. Aber manchmal hat man doch Glück und es kommt ein interessantes neues Detail dazu. Also, Paula von Raben ist Ihrer Ansicht nach vom Neid geprägt?“
„Ja. Sie findet es dort furchtbar, zieht aber nicht aus, obwohl sie es sich bestimmt leisten könnte, weil die anderen gratis dort wohnen und ihr das auch zusteht. Als hätte man ein Anrecht auf ein scheußliches Leben, bloß weil andere auch scheußlich leben! Verquere Logik.“
„Haben Sie das Gefühl, dass jemand wusste, dass Ludwig sie alle beklaut hat?“
Sophie überlegte. „Sie waren ja auch dabei… nein. Die waren zum einen ehrlich überrascht – außer Paula. Und außerdem hat er ja nur Mist geklaut, außer dieser Uhr. War die eigentlich wirklich wertvoll oder mehr von sentimentalem Wert?“
„Wissen wir noch nicht so genau. Also Paula wusste Bescheid, denken Sie?“
„Schwer zu sagen. Mir klang das eher nach generellem Stänkern. Und vielleicht dem Wunsch, mehr zu wissen als die andere. Die mögen sich schließlich nicht. Und keine kann mal mit einer Mülltüte und einem feuchten Lappen durchs Haus ziehen. Aber die Brüder haben ja auch keinen Finger gerührt… Grausig. Hoffentlich muss ich da nie wieder hin…“
Katrin Kramer sah betont unschuldig von ihrem Tablet hoch. „Mir schien allerdings, dass Herrn von Raben sehr an Ihrer guten Meinung gelegen war.“
„Großer Gott, das glaube ich nicht. Dem waren seine Schwestern doch bloß peinlich! Schauen Sie, er hat sich vielleicht ein bisschen in Fritzis Verehrung gesonnt, sie findet ja sein Seminar so toll und hat schon mal gesagt, später möchte sie vielleicht bei ihm promovieren… Da will er ihr seltene Ausgaben aus dem 18. Jahrhundert zeigen und was kriegt sie stattdessen? Eine Leiche, jede Menge Siff und zwei grässliche zänkische Weiber.“
„Hat was für sich – seltene Ausgaben? Sie meinen, so wie Briefmarkensammlung?? Ist ja putzig… ist sowas nicht verboten?“
„Quatsch. Prof. und Studentin ist nicht verboten, man kann ja bei jemand anderem Examen machen. Es hat höchstens ein Gschmäckle – aber ich war schließlich auch dabei, und ich glaube gar nicht mal, dass Fritzis Heldenverehrung eine so – naja, sagen wir – irdische Komponente vertrüge. Nein, da läuft nichts, da bin ich mir ziemlich sicher.“
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