Schluss mit dem Selbstmitleid! Ich war freiwillig Deutschlehrerin geworden, jetzt musste ich da eben durch. In Zukunft würde ich einfach besser planen, damit ich pro Woche nur ein Ex und einen Heftestapel hatte. Und irgendwann würden auch meine Feinde an Macht verlieren und ich bekäme vielleicht einen netten Stundenplan mit nur zwei Deutschklassen...
Eigentlich ging es mir saugut, redete ich mir halblaut vor und schlug die nächste Mappe auf, immerhin hatte ich eine Wohnung, das konnte nicht jeder von sich behaupten. Und einen Job, der mir sicher war! Vor ein paar Jahren kriegten nur die Allerbesten eine Planstelle, jetzt waren die Zeiten wieder etwas besser, und davon hatte ich profitiert. 2,15 war schließlich keine Traumnote. Ich klappte die Mappe zu und nahm mir die nächste vor. Äh, der Wasserkocher! Ich goss die Terrine auf, rührte um und drückte den Aludeckel wieder fest, dann kehrte ich zu meiner Mappe zurück.
Außerdem hätte ich ja auch eine Stelle in München kriegen können, der totale Albtraum. Da hätte ich mir nicht einmal einen Schlafplatz unter den Isarbrücken leisten können! Oder im Bayerischen Wald, da, wo ich ein halbes Jahr als Referendarin gewesen war. Gut, die Mieten waren geschenkt, aber es war schon sehr ländlich gewesen... nicht mein Fall.
Das zweite Halbjahr im Schwäbischen hatte mir eigentlich ganz gut gefallen, eine nette Schule, eine überschaubare hügelige Kleinstadt – und schwäbische Preisgestaltung, was mir sehr entgegenkam. Und dann wieder zurück zur Ausbildung nach Leisenberg, wo ich mir natürlich eine neue Wohnung suchen musste. Das Miniappartement war eigentlich ein Glücksfall gewesen, genauso wie die Ausbildung am Leopoldinum. Da hätte ich gerne eine Stelle gekriegt, aber die hatten leider keinen Bedarf, die hatten schon jede Menge junge Lehrer und niemanden, der in Pension ging und ersetzt werden musste.
Ganz im Gegensatz zum Albertinum mit seinem großenteils überalterten Kollegium! Nächstes Heft... Andererseits war das vielleicht auch wieder ein Glücksfall – in den nächsten Jahren gingen sicher einige Fossilien in Pension.
Wie alt war die Bernrieder eigentlich genau? Vielleicht war sie ja schon viel älter als Anfang vierzig und hatte sich nur gut gehalten? Wo konnte ich das rauskriegen?
Zurück zum Heft! Immerhin war das schon Nummer 27, nur noch vier Mappen lagen neben meinem linken Ellbogen. Und die Terrine musste jetzt auch fertig sein! Ich löffelte langsam und genüsslicher, als es der etwas pampige Inhalt verdiente. Wie immer hatte ich doch nicht gründlich genug umgerührt und stieß auf dem Grund auf einen Klumpen Saucenpulver mit sehr penetrantem Pilzgeschmack.
Satt und einigermaßen zufrieden ackerte ich die letzten vier Mappen durch, steckte den ganzen Stapel in die Jutetasche, notierte mir einige Gedanken zur morgigen Stunde in der K12, freute mich, dass ich die Geschichtsstunde aus der neunten Klasse morgen in der anderen Neunten noch einmal verwenden konnte, und streckte mich wohlig. Eigentlich ging es mir doch wirklich prima – und ich hatte alles korrigiert! War ich nicht gut?
Dafür war es jetzt aber auch schon halb zehn. Das hieß, dass ich noch eine halbe Stunde lesen durfte, um morgen nicht zu müde zu sein.
Ich spulte meine Geschichtsstunde recht routiniert ab, weil ich sie ja gestern schon gehalten hatte, und staunte dabei wieder über die Unterschiede zwischen den beiden neunten Klassen: Wo sich gestern mehr oder weniger kenntnisreiche Diskussionen entsponnen hatten, herrschten heute absolute Ruhe und eifriges Mitschreiben, als rechneten die Armen mit einem Extemporale. Das war eigentlich keine so blöde Idee, überlegte ich. Aber am Freitag? Am letzten Schultag vor den Herbstferien? Ach was, Herbstferien, das war doch nichts Besonderes. Ich merkte mir das Ex vor und übte gleich noch ein bisschen das Verständnis von Fragen und die richtige Art der Beantwortung. Das verständnissinnige Grinsen von einigen Mädchen in den vorderen Reihen zeigte mir, dass die Botschaft angekommen war. Ich grinste zurück und wünschte weiter frohes Schaffen, als ich nach dem Läuten und dem obligatorischen Ruf „Tafeldienst!“ das Zimmer verlassen hatte.
Im Sekretariat saß nur Frau Schneider, die „Mutter vons Janze“, wie sie sich selbst einschätzte. „Na, Frau Prinz, was kann ich denn für Sie tun?“
Ich beugte mich vertraulich über den Tresen. „Meinen Sie, Sie könnten mir eine Schulbescheinigung ausstellen?“
„Logisch. Wofür brauchen Sie sie denn?“
„Für meine Bank. Sonst glauben die mir nicht, dass ich wirklich einen Job habe. Ich möchte, dass die mir den Dispo ein bisschen erweitern. Ich meine, irgendwann muss doch mein Gehalt mal anlaufen, oder? Wenigstens im neuen Jahr oder so.“
Sie ließ den Stift fallen, den sie in der Hand gehalten hatte, ihr Doppelkinn zitterte vor Entrüstung. „Soll das heißen, dass Sie noch gar kein Gehalt bekommen haben?“
„Richtig. Ich dachte, das ist normal?“
„Normal? Das ist eine Frechheit ersten Ranges. Aber vereidigt hat man Sie schon, oder?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nur am Beginn der Referendarzeit.“
„Mussten Sie im Sommer noch mal zum Gesundheitsamt?“
„Nein, da war alles in Ordnung. Ich meine, was soll auch sein, ich rauche nicht, ich trinke nicht, ich habe Untergewicht und ich habe während der Referendarzeit keinen Tag gefehlt.“
„Lobenswert – bis auf das Untergewicht.“ Sie musterte mich strafend und musste dann lachen. „Essen kostet Geld“, klagte ich und schaute möglichst erbarmungswürdig drein.
„Ich rufe bei der Bezügestelle an“, verkündete sie finster und griff zum Hörer. In den nächsten Minuten hatte ich das Vergnügen, zuzuhören, wie sie mehrere Sachbearbeiter nach allen Regeln der Kunst zusammenfaltete und so lange herumscheuchte, bis anscheinend ein wichtiges, bisher fehlendes Dokument wie durch Zauberhand wieder aufgetaucht war. „Und warum haben Sie uns nicht informiert? Was glauben Sie eigentlich, wovon unsere Beamten leben sollen, während Sie Ihre Arbeit nicht machen? - Was heißt hier Rücklagen? Haben Sie sich mal angeschaut, mit welchen Almosen Referendare abgespeist werden? Das ist schon nicht mehr die übliche Schikane, das ist schon Grausamkeit. Und da wundern Sie sich, dass Ihnen der Nachwuchs ausgeht? - Sie geben diesen Wisch jetzt auf der Stelle in die Post. Wenn er am Freitagmorgen nicht da ist, haben Sie mich wieder in der Leitung, und dann gibt es erst richtig Ärger. Und eine Abschlagszahlung an Frau Prinz veranlassen Sie auch sofort. - Nein, damit warten Sie nicht mehr, die Unterlagen sind doch vollständig, haben Sie gesagt. Oder? - Na bitte. Nein, jetzt sofort! Wenn sich erst einmal unser Chef einschaltet, droht Ihnen eine Dienstaufsichtsbeschwerde. – Doch, das wissen Sie auch selbst.“
Sie legte wieder auf und sah mich triumphierend an. „So, denen habe ich aber Beine gemacht! Die Bestallungsurkunde wird jetzt sofort ausgefertigt und zur Post gegeben. Sie hatten Ihren Lebenslauf verlegt und waren zu faul, sich deshalb zu rühren.“
Ich schüttelte den Kopf. „Nicht zu fassen! Die hätten doch bloß mal hier anrufen müssen, dass hätte ich ihnen einen neuen Lebenslauf geschickt. Stattdessen lassen die mich verhungern.“
Frau Schneider zog eine Schublade auf und reichte mir eine Mozartkugel. „Hier, zur Überbrückung! Und, wollen Sie die Bescheinigung jetzt immer noch?“
„Sicherheitshalber.“, lutschte ich zufrieden. „Stellen Sie sich vor – die Post...“
„Auch wieder wahr. Also gut!“
Sie zog ihre Tastatur näher heran, rief ein offizielles Briefformular der Schule auf und begann zu tippen. Der Drucker surrte, sie zog das Blatt heraus, unterschrieb schwungvoll und drückte den Schulstempel darunter.
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