„Mein Gott, nehmen Sie Ihren unordentlichen Kram eben mit in den Unterricht und bauen Sie hier keine Stolperfallen. Und ein Job , wie Sie sagen, kommt gar nicht in Frage. Nebenberufliche Tätigkeiten müssen Sie genehmigen lassen, und ich werde dafür sorgen, dass Dr. Silberbauer Ihnen diese Genehmigung versagt. Konzentrieren Sie sich lieber auf Ihre Arbeit, das schadet Ihnen bestimmt nicht.“
Ich stand da in meinem schäbigen Anorak, beide Taschen umgehängt, und rührte mich nicht. „Und wovon soll ich meine Miete zahlen?“
„Tja... wenn Sie voreilig bereits eine Wohnung mieten, bevor Ihre Position amtlich ist – das ist ja wohl nicht unser Problem, oder? Dass die jungen Leute immer sofort ihre Eltern im Stich lassen müssen... was stehen Sie so dumm da?“
Ich antwortete nicht, sondern starrte aus dem Fenster und hoffte, mich so weit bezähmen zu können, dass ich weder zu heulen anfing noch dieser dummen Schnepfe die verdiente Ohrfeige verpasste.
„Hören Sie nicht? Warum stehen Sie hier so dämlich herum?“
„Was ist denn hier los? Warum setzen Sie sich nicht, Frau Prinz?“ Der Stellvertreter, Jörndl. „Wohin denn? Ich habe hier keinen Platz, und da ich meine Taschen nicht abstellen darf, bleibe ich jetzt hier im Anorak stehen, bis es endlich läutet und ich in meine Klasse gehen kann.“
„Ach so? Naja, dann... Frau Bernrieder, was dieses Sprachlabor betrifft, daraus könnte man ein wunderbares Klassenzi -“
„Kommt nicht in Frage“, unterbrach sie ihn. „das Sprachlabor ist vor wenigen Jahren für teures Geld eingerichtet worden. Daraus machen Sie kein Klassenzimmer!“
„Aber niemand benutzt es! Es ist dreißig Jahre alt! Und wir brauchen den Raum dringendst!“
„Lösen Sie den Videoraum auf. Die ewige Fernseherei ist sowieso schädlich für die Kinder. Und Sie scheren Sich jetzt hier endlich aus dem Weg!“, fuhr sie mich an.
„Der Videoraum wird aber wenigstens genutzt. Und es gibt auch gute Dokumentarfilme“, wandte Jörndl schwächlich ein. Ich stellte mich in eine Ecke, im Anorak schwitzend, und wunderte mich. Wer war hier eigentlich der Chef? Wieso sagten er und Silberbauer nicht einfach: „Das Sprachlabor kommt weg, basta!“
„Mir egal. Das Sprachlabor bleibt. Sie sind ja immer noch da!“
„Wo soll ich auch hin?“, fuhr ich sie an.
„Wir sollten hier noch zwei Tische aufstellen“, dachte Jörndl halblaut nach.
„Nein!“, fauchte die Bernrieder. „Hier ist es voll genug, man kann sich schon kaum noch bewegen, auch ohne dass sich unverschämte neue Kollegen unnötig breit machen.“
„Blöde Kuh“, dachte ich mir. „Wenigstens ein paar zusätzliche Stühle“, schlug Jörndl vor. „Überflüssig!“, behauptete sie, zornrot im Gesicht.
Ich überlegte, was ich der Frau eigentlich getan hatte. Seit der allerersten Konferenz am so genannten nullten Schultag konnte sie mich nicht ausstehen.
„Ach Quatsch“, sagte jemand hinter mir. „Neben mir ist noch ein bisschen Platz. Herr Jörndl, ein paar zusätzliche Stühle wären wirklich nicht schlecht.“
Ich drehte mich um. Frau Tetzner, Latein und Englisch. Sehr mütterlich und ein bisschen verschusselt, soweit ich es bisher mitbekommen hatte. Ich lächelte sie an. „Das wäre natürlich toll. Ich würde Sie auch gar nicht stören, nur meine Sachen aufstapeln. Viel Platz bräuchte ich auch nicht, ganz bestimmt. Korrigieren tue ich zu Hause.“
„Ich sag´s dem Hausmeister!“
Jörndl entfloh, anscheinend hatte er Angst vor der Bernrieder. Sie war aber auch eine formidable Erscheinung: groß, gut aussehend, blondtoupiert, kühle blaue Augen, die arme Schüler sicher in Panik versetzen konnten. Ich schätzte sie auf Anfang vierzig – warum redete sie immer daher, als hätte sie in den Siebzigern hier schon unterrichtet? Sprachlabor – das war doch völlig veraltet, so wie programmiertes Lernen.
Die Tetzner zeigte mir ihren Platz und schob einen Stapel Metamorphosen und mehrere Schulaufgaben, Extemporalien und Rundschreiben zusammen. „So, hier können Sie ihre Sachen ablegen! Fühlen Sie sich ruhig wie zu Hause!“ Selig stellte ich Tasche und Jutebeutel ab und zog endlich den viel zu warmen Anorak aus, hängte ihn in den Schrank (natürlich ohne Bügel, die gehörten bestimmt alle der Bernrieder) und rannte, um die Angabe für die 11 b zu kopieren. Kaum war ich damit fertig, läutete es auch schon. Viertel vor neun, Beginn der zweiten Stunde.
Gott sei Dank! In den Klassenzimmern fühlte ich mich wirklich wohl. Dass ich nach der großen Pause wieder eine Freistunde hatte, stellte direkt ein Problem dar. Ich konnte noch einiges kopieren, aber es war zum Beispiel nicht möglich, schon mit der Korrektur des Extemporale zu beginnen, weil in dieser Stunde Frau Tetzner ihren Tischanteil selbst brauchte. Also streifte ich etwas herrenlos herum, las, was am schwarzen Brett hing (das meiste stammte noch aus dem letzten Schuljahr) und beobachtete unauffällig die herumsitzenden Kollegen. Meine Geißel, Frau Bernrieder, war glücklicherweise im Unterricht.
Frau Neumeister und Frau Geppner unterhielten sich über die örtlichen Großmärkte und die alte Frage Öko oder superbillig? , klagten dann über ihre miesen Gehälter, wie sie sich aus Steuerklasse V ergaben und verglichen, welcher Ehemann die bessere Karriere gemacht und wessen Kinder die schlaueren waren.
Wallner korrigierte etwas. Ich beobachtete ihn unauffällig. Direkt hässlich war er nicht, und ganz offensichtlich auch nicht besonders alt, vielleicht Anfang dreißig. Wieso hatte so jemand es nötig, Anfänger zu schikanieren? Konnte er sich nicht mehr an seine eigene Anfangszeit erinnern?
Jörndl saß in einer Ecke und starrte – eigentlich wie immer – stirnrunzelnd auf den Raumplan. Suchte er immer noch nach zusätzlichen Klassenzimmern, damit die Zehnten nicht mehr wandern mussten? Wieso konnte die Bernrieder ihn so abbürsten? War er denn in solchen Fragen nicht weisungsbefugt? Die Bernrieder schien hier so etwas wie eine heimliche Chefin zu sein, aber warum, verstand ich nicht. Eine besondere offizielle Funktion besaß sie nicht, sie war nicht Fachbetreuerin (das hätte mir auch gerade noch gefehlt, sie gab nämlich wie ich Deutsch und Geschichte, und außerdem noch Englisch) und keine Mitarbeiterin im Direktorat. Dort gab es zwar eine Frau, Anne Hausmann, nicht viel älter als ich, aber die war seit Schuljahrsanfang krank, ich hatte sie noch gar nicht gesehen.
Die Bernrieder machte sich anscheinend hauptsächlich generell wichtig und war außerdem für den Schüleraustausch zuständig. Na, hoffentlich benahm sie sich im Ausland etwas verbindlicher!
In einer anderen Ecke saß Herr Kelchow und las irgendetwas Französisches. Schöner Mann, wirklich. Braune Haare, exzellent geschnitten, an den Schläfen dekorativ angegraut, markante Züge. Und immer so toll angezogen! Alle anderen trugen Jeans, T-Shirt oder Sweatshirt und darüber vielleicht noch ein Jackett, er aber war in einen richtigen Anzug gekleidet, anthrazit mit passendem blassgrauem Hemd und einer grausilbernen Krawatte. Mit Krawattennadel! Sehr elegant.
Er sah auf, als hätte er meinen Blick gespürt, sah blicklos durch mich hindurch und senkte die Augen wieder. Ich war für so einen wohl gar nicht vorhanden? Oder er fand mich schrecklich, was mein Outfit betraf. Gut, ich hatte nun mal rote Haare und ziemlich wilde Locken, aber ich hatte sie doch sowieso schon zurückgebunden. Und Jeans, T-Shirt und einen Blazer trug ich auch. Was hätte ich auch sonst anziehen sollen, so viel gab mein Schrank gar nicht her. Ein Kostüm, wie es die Bernrieder zu tragen pflegte, hatte ich überhaupt nicht, so etwas hatte ich mir nicht einmal fürs Mündliche leisten können. Für die Schule hatte ich drei Hosen, zwei Blazer und einen kleinen Stapel bessere T-Shirts. Die älteren und die Jeans mit der aufgescheuerten Innennaht waren fürs Wochenende gedacht. Für den Januar hatte ich noch zwei Wollpullis in Reserve und für ganz heiße Sommertage ein Blümchenkleid, zu dem ich aber keine passenden Schuhe besaß. Damit war meine Garderobe fertig umrissen.
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