„Was hast du verbrochen?“, fragte er schließlich geradeheraus.
„Verbrochen?“, wiederholte ich erstaunt und schaute ihn verständnislos an.
Dann sah ich auf die Männersachen, meine Sachen, die ordentlich auf einer Kiste lagen, und begriff, was er denken musste. Keine anständige Frau würde in so einem Aufzug durch die Gegend reisen und noch dazu allein. Zudem war die Kleidung ärmlich, mein Pferd hingegen von edlem Blut, was ein Zigeuner wohl ohne Weiteres erkennen konnte. Man sagte ihnen schließlich nach, dass sie Pferdeverstand besaßen.
„Ich habe nichts verbrochen, wenn du Diebstahl oder Mord meinst. Ich ... ich bin auf der Flucht vor meinem Vormund. Er wollte mich zwingen ihn ...“ Ich stockte. Wie viel sollte ich, durfte ich, überhaupt erzählen?
„... zu heiraten?“, half er mir nach.
Ich nickte nur. Ich fühlte mich ein wenig unbehaglich. Dieser Sergio war freundlich, aber wusste ich wirklich, was in den Köpfen dieser unzivilisierten Menschen vor sich ging? Ich hatte nichts bei mir, was sie mir stehlen könnten, außer dem wenigen Schmuck; falls sie ihn nicht schon gefunden hatten; meinem Pferd und ... – meiner Unschuld.
„Bei uns sucht er dich bestimmt nicht, außerdem lassen wir niemanden ins Lager, wenn wir es nicht wollen. Hier bist du sicher. Ruh dich erst einmal aus und komme zu Kräften. Ich hole dir etwas zu essen und zu trinken. Ich muss Santino von deinem Erwachen berichten. Er wird mit dir reden wollen, aber keine Angst, er wirkt manchmal ruppiger, als er eigentlich ist. Außerdem ist Großmutter Aneta deine Verbündete und er würde nie wagen, sich gegen sie zu stellen. Sie könnte ihn verfluchen.“
Verfluchen? Ja, ich hatte davon gehört, dass Zigeuner manchmal Leute verfluchten und diese dann nur noch Unglück hatten oder gar verstarben. Diese Großmutter Aneta musste sehr mächtig sein. Hoffentlich stand sie wirklich auf meiner Seite. Ich wollte mich ungern mit einer Hexe anlegen.
Als Sergio verschwunden war, schaute ich mich im Wohnwagen um. Der Wagen war einfach eingerichtet, aber sauber und praktisch. Vielleicht waren diese Zigeuner ja doch nicht so schlimm, wie man ihnen nachsagte. Eigentlich war ich ein Mensch, der nicht viel auf Vorurteile gab. Schließlich hatte man auch über mich geredet, weil ich mit zwanzig Jahren noch unverheiratet war. Es war ja nicht so, dass es an Bewerbern gemangelt hätte. Es war nur nie ein Funke übergesprungen und ich hatte mir in den Kopf gesetzt, nur aus Liebe zu heiraten. Zum Glück hatte mein Vater für mich Verständnis gehabt und mich nie sonderlich bedrängt. Nur meine Mutter hatte mir die letzten Monate in den Ohren gelegen, dass es langsam an der Zeit sei, mir einen Gemahl zuzulegen.
Ich wägte die Argumente, die für und gegen ein Verbleiben bei den Sinti sprachen, sorgfältig gegeneinander ab. Es war unmöglich, weiter als Mann durch die Gegend zu reisen. Ich traute meiner Verkleidung nicht mehr. Als allein reisende Frau hingegen war ich vielen Gefahren ausgesetzt. Möglicherweise war es doch sicherer, in Begleitung dieser Menschen zu reisen, und Sergio hatte recht – hier würde mein Onkel mich so schnell nicht finden.
*****
Nach einer Weileerschien Sergio wieder in dem Wagen und er brachte mir eine gebratene Hasenkeule und geschmorte wilde Zwiebeln mit allerlei Kräutern sowie einen Krug frischen Wassers mit. Als der Duft des Essens mir in die Nase stieg, merkte ich erst, wie hungrig ich doch war. Ich setzte mich vorsichtig in meinem Lager auf und machte mich über das Essen her. Ich verschwendete keinen Gedanken daran, ob ich schmatzte oder ob es besonders damenhaft war, sich die Finger abzulecken. Ich war ausgehungert und das Essen war köstlich. Ich glaubte, in meinem ganzen Leben noch nie so etwas Leckeres gegessen zu haben.
„Santino kommt gleich zu dir. Wenn du möchtest, bleib ich hier bei dir.“
Ich blickte von meinem Essen auf. Dieser Santino schien ein gefährlicher Bursche zu sein. Sicher wäre es nicht schlecht, wenn jemand dabei war, dem ich wenigstens etwas vertrauen konnte. Zumindest hatte ich das Gefühl, diesem jungen Mann trauen zu können.
„Ja, bitte. Ich hätte dich gern dabei“, sagte ich deswegen und schaute ängstlich zur Tür.
„Keine Sorge. Er beißt dich schon nicht. Er trägt die Verantwortung für die Sippe und deshalb muss er sicherstellen, dass uns durch dich keine Gefahr droht. Großmutter Aneta hat gesagt, du wärst Schicksal. Sie sagt, du musst hier bei uns bleiben, also wird er sich ihren Rat zu Herzen nehmen.“
Das beruhigte mich etwas. Diese Alte musste einigen Einfluss haben, wie mir schien. Ich war mittlerweile sehr neugierig auf Großmutter Aneta.
Ich kratzte mit dem Löffel die letzten Zwiebeln aus der Schüssel und spülte sie mit einem großen Schluck Wasser runter. Kaum dass ich mein Mahl beendet hatte, erschien ein großer Mann mit einem eindrucksvollen Schnurrbart in der Tür. Er schaute grimmig drein. Seine buschigen Augenbrauen verstärkten den Eindruck noch. Ich hatte plötzlich das Bedürfnis, mich in Luft auszulösen. Er hatte nichts von der unangenehmen und hinterhältigen Ausstrahlung meines Onkels, vielmehr erschien er mir wie ein Berserker aus diesen alten Nordmann-Sagen. Ich hatte darüber gelesen. Seine Präsenz schien den ganzen Wagen zu füllen. Ich kam mir unangenehm klein und hilflos vor.
„Vater, das ist Liz“, sagte Sergio.
Vater? – Das war Sergios Vater? Wie konnte so ein freundlicher junger Mann so einen Vater haben? Ich war erstaunt. Ich hätte vieles erwartet, doch sicher nicht dies.
Santino trat näher und Sergio überließ ihm respektvoll den Stuhl. Der Anführer der Sippe setzte sich und schaute mich eingehend an, was mich ganz nervös machte. Seine Augen schienen mir bis auf den Grund meiner Seele schauen zu können. Seine Miene blieb unbeweglich. Unmöglich zu sagen, was er dachte. Dieser Mann war wirklich Furcht einflößend. Vielleicht war an den Geschichten über Raub, Mord und Vergewaltigung doch was dran. Sergio könnte ja eine Ausnahme darstellen, aber dieser finstere Barbar war jemand, dem ich alles zutrauen würde. Eine scheinbare Ewigkeit schwieg Santino, dann lehnte er sich plötzlich vor und ich wich unwillkürlich auf meinem Lager zurück.
„So, dein Name ist Liz“, stellte Santino fest. „Wie kommt es, das du in Männerkleidung unterwegs bist? Was hast du ausgefressen, hä?“
Ich schluckte nervös und schaute Sergio unsicher an. Der lächelte mir aufmunternd zu und nickte. Er schien nicht besonders beunruhigt zu sein. Vielleicht wirkte sein Vater schlimmer, als er war, dachte ich hoffnungsvoll.
„Ich bin geflohen“, begann ich mit leiser Stimme.
„Wovor? Oder vor wem?“, wollte Santino wissen.
„Vor ... vor meinem Vormund.“
„Eine Frau hat zu gehorchen. Ihren Eltern oder ihrem Vormund und später ihrem Ehemann“, polterte Santino und schaute mich tadelnd an.
„Das habe ich ja. Doch dann hat er versucht mich ... er wollte mich zwingen ...“, ich brach in Tränen aus.
Vergessen war die Angst vor diesem wilden Zigeuner. Was sollte er mir tun? Nichts konnte schlimmer sein, als das, was mir zu Hause blühte.
„Dann ist er ein charakterloser Schwächling. Ein Mann, der mit einem Weib nur zurechtkommt, wenn er ihr Gewalt antut, ist ein Schwächling. Ein Sinti hat sein Weib auch so im Griff“, erregte sich Santino.
„Ja, so wie du Mama im Griff hast“, warf Sergio lachend ein und erntete dafür einen vernichtenden Blick.
„Schweig!“, brüllte Santino. „Deine Mutter ist ein Teufelsweib! Sie würde ihrem Henker noch hochmütig Befehle erteilen!“
Santinos Stimme war ein lautes Poltern, aber er konnte ein leises Grinsen nicht verbergen und seine Augen funkelten amüsiert.
Ich war neugierig geworden. Was für eine Frau musste Sergios Mutter sein, wenn sie einem Mann wie Santino Befehle erteilte? – Ein Teufelsweib! So einer Frau war ich noch nie begegnet. Meine Mutter war ruhig und sittsam gewesen, immer folgsam gegenüber dem Ehemann. – Ja, eine Frau, die es mit ihrem Gatten aufnahm, sich ihm offen entgegen stellte, hatte ich noch nicht erlebt.
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