Ich nickte eingeschüchtert, doch in meinem Inneren kochte ein rebellischer Zorn. Ich unterdrückte die Worte, die mir auf der Zunge lagen, war ich mir doch bewusst, dass jeder Versuch, sich offen gegen meinen Onkel aufzulehnen, vergeblich, ja vielleicht sogar gefährlich sein würde. Ich traute ihm ohne Weiteres zu, dass er mich wie ein Kind übers Knie legen würde, um mich zu schlagen. Und so blieb ich fügsam, wie auch Mutter es stets gewesen war, eine Rolle, in der ich mich alles andere als wohl fühlte, doch irgendwie musste ich die nächsten sechs Monate überleben.
Kapitel 1
22. Juni 1888
Drei Monate lebteOnkel James nun schon unter meinem Dach. Ich hatte mittlerweile herausgefunden, dass er zwei Gesichter besaß. Er konnte die Liebenswürdigkeit in Person sein. In Anwesenheit von Gästen mimte er den netten Onkel, der um seinen Schützling besorgt war und nur das Beste wollte. Dann wieder konnte er launisch und jähzornig sein und die Bediensteten fürchteten ihn. Besonders alle weiblichen von entsprechendem Äußeren. Onkel James stellte den jungen Mädchen nach und versuchte gar nicht erst, diese unmoralischen Aktivitäten vor mir zu verheimlichen. Er neckte mich sogar mit obszönen Andeutungen und lachte mich aus, wenn ich vor Scham errötete. Auch ich fühlte mich vor ihm nicht sicher. Mehrmals schon hatte er mich auf eine Weise angefasst, die alles andere als akzeptabel war und ich versuchte, ihm tunlichst aus dem Weg zu gehen. Niemand war da, der mich vor seinen Annäherungen beschützen würde. Ich war ganz auf mich gestellt. Ein beängstigender Gedanke.
Eines Abends saßen wir zusammen im kleinen Salon. Onkel James bestand darauf, dass ich ihm nach dem Essen stets noch ein Stündchen Gesellschaft leistete. Ich hasste diese erzwungene Zweisamkeit, war aber froh, dass er keinerlei Unterhaltung von mir zu erwarten schien. Er war ohnehin kein besonders redseliger Mann.
Gedankenverloren starrte ich auf meine Stickarbeit, ohne auch nur einen Stich getan zu haben. Handarbeit war nicht gerade meine Stärke, aber Onkel James bestand darauf, dass ich mich „wie eine junge Dame benahm“. Mutter hatte oft vergeblich versucht, mir die Handarbeiten nahe zu bringen, doch ich schien kein großes Geschick dafür zu haben. Ich fand Handarbeiten entsetzlich langweilig und hätte ein gutes Buch vorgezogen. Unsere Bibliothek war gut bestückt und es gab noch so viele Bücher, die ich noch nie gelesen hatte. Mein Vater hatte mich stets zum Lesen ermuntert und mit mir oft über verschiedene Bücher und auch über Wissenschaften und Politik diskutiert.
Onkel James saß im Lieblingssessel meines Vaters und las in der Bibel, wie jeden Abend. Ich hatte schon festgestellt, dass mein Onkel beinahe schon fanatisch religiös war, wenngleich er die Bibel für sich selbst großzügig auslegte. Die Stellen, wo es um Hurerei und Trunkenheit ging, schien er regelmäßig zu überlesen. Dabei war er stets schnell dabei, einen Vers für mich zu finden, der die erwünschten Tugenden einer Frau beschrieb. Ich hatte von Mutter oft genug zu hören bekommen, dass ich viel zu undamenhaft war. Frauen hatten eben nicht selbstständig zu denken und erst recht stand es ihnen nicht zu, einen Mann zu kritisieren. So jedenfalls schien mein Onkel die Sache zu sehen.
Neben ihm, auf einem kleinen Tischchen, standen wie üblich eine Karaffe mit Brandy und ein Glas. Ich hatte bemerkt, dass mein Onkel gern und viel trank, besonders Vaters teuersten Brandy. Wenn er sehr viel trank, schlief er immer im Sessel ein. Deshalb hatte ich Molly angewiesen, ihm abends Brandy hinzustellen. Heute Abend jedoch hatte er zu meinem Leidwesen noch nicht einmal das erste Glas ausgetrunken. Meine Gedanken richteten sich auf ein Leben ohne meinen schrecklichen Vormund. Ich malte mir aus, einen gut aussehenden und charmanten Mann zu heiraten und einen Haufen niedlicher Kinder zu bekommen, die das ganze Haus bevölkerten. Ich würde mit meinem Gatten über die blühenden Wiesen galoppieren und den Wind in meinen Haaren genießen. Ich würde frei sein, zu tun, was mir gefiel und mich nicht von einem übel gelaunten Tyrannen das Leben schwer machen lassen. Einziges Manko war, dass ich meinem Traummann noch nicht begegnet war. Wenn es ihn überhaupt gab.
„Ich habe nachgedacht“, riss die Stimme meines Onkels mich plötzlich aus meinen süßen Tagträumen.
Erschrocken blickte ich auf. Onkel James hatte die Bibel beiseite gelegt und nippte an seinem Brandy. Seine stechenden, kleinen Augen waren mit einem seltsamen Ausdruck auf mich gerichtet. Ich fühlte mich wie ein Reh, das vom bösen Wolf fixiert wird. Um seinen Mund lag ein widerlicher Zug von Selbstzufriedenheit. Eine Gänsehaut kroch meine Arme hinauf und ließ mich schaudern. Ich spürte seine bösartige Aura, ein unsichtbares Wesen, das mit gefletschten Zähnen und lauernden Blicken durch den Raum schlich, bereit, mich zu packen, seine Fänge in mich zu schlagen. Mühsam unterdrückte ich den drängenden Impuls, aufzuspringen und aus dem Raum zu fliehen.
„Ich denke, du bist nicht in der Lage, dieses Haus und die Geschäfte in London zu führen. Du kannst unmöglich dein Geld selbst verwalten. Innerhalb eines Jahres wärst du bankrott und alles, was dein Vater aufgebaut hat, dahin“, eröffnete Onkel James.
Ich spürte, wie trotz aller Furcht Empörung in mir hochstieg. Ich hatte viel von meinem Vater über die Geschäfte gelernt und außerdem gab es sehr fähige leitende Angestellte, die stets das volle Vertrauen meines Vaters genossen hatten. Ich brauchte meinen Onkel nicht. In drei Monaten würde ich die Zügel für mein Leben selbst in die Hand nehmen, ob es ihm nun gefiel oder nicht. Trotzdem hielt ich es für klüger, zu schweigen. Mir war bewusst, dass ich ihm nicht gewachsen war. Momentan war er mir gegenüber im Vorteil und ich hatte keine Unterstützung. Sobald ich volljährig war, würde ich mir einen Rechtsbeistand nehmen und Onkel James zum Teufel jagen.
„Was du brauchst, ist – ein Ehegemahl“, verkündete er weiter. Sein Tonfall hatte etwas abstoßend Gönnerhaftes, das mich anwiderte.
Mir wurde übel. Ich versuchte, mir darüber klar zu werden, was seine Worte für mich bedeuteten. Er wollte mich scheinbar mit irgendeinem Mann verheiraten, der ihm von Nutzen war. Mein Onkel tat eindeutig nie etwas, was ihm nicht zum Vorteil gereichte. Aus der Traum von meinem Traumprinzen, der mir all meine Freiheiten lassen würde. In Gedanken sah ich mich schon an einen alten, zahnlosen Greis verschachert, der mir auf dieselbe, widerliche Art nachstellte, wie Onkel James. Das durfte nie passieren. Ich wollte mir selbst einen Mann wählen. Erst recht, wo ich so kurz vor der ersehnten Volljährigkeit stand. Mühsam schaffte ich es, meine vielschichtigen Emotionen zu beherrschen und ihm in die Augen zu blicken.
„Vielen Dank, dass Ihr so um meine Zukunft besorgt seid. Ich weiß dass zu schätzen, doch ich möchte mir selbst den richtigen Gatten auswählen, wenn die Zeit gekommen ist. Erst einmal möchte ich noch etwas meine Freiheit genießen“, sagte ich. Ich hoffte, er würde das leichte Zittern in meiner Stimme nicht bemerkt haben.
Onkel James lehnte sich ein wenig vor und lächelte zynisch.
„Siehst du? Genau das meine ich! – Deine Freiheit genießen! Pah! – So redet nur ein liederliches Frauenzimmer. – Verantwortungslos, ja zügellos bist du. Du brauchst einen Mann, der dich in deine, vom Herrgott bestimmten Schranken verweist!“
„Ihr könnt mich nicht zwingen, irgendeinen Mann zu heiraten, wenn ich es nicht will!“, begehrte ich auf. Jetzt war es wirklich genug der Fügsamkeit. Ich würde mich auf gar keinen Fall verheiraten lassen. Wenn ich einmal heiratete, dann einen Mann, den ich liebte und einen solchen hatte ich nun eben noch nicht gefunden.
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