Ivo und Sergio ritten an der Spitze des Zuges. Die beiden Brüder waren die Söhne von Santino, dem Anführer der Sippe.
„Schau mal Ivo“, rief Sergio plötzlich und deutete nach vorn. „Da liegt jemand am Wegesrand.“
Sergio spornte sein Pferd an und galoppierte zu der am Boden liegenden Gestalt, stieg eilig ab und kniete sich neben den leblosen Körper. Mit kundigen Fingern prüfte er den Puls.
„Er atmet noch!“, rief er seinem Bruder zu, der nun ebenfalls heran geritten kam.
Ivo gewahrte den prächtigen Hengst, der in einiger Entfernung graste. Er kannte sich mit Pferden aus und dieses Pferd war viel zu kostbar für die traurige Erscheinung seines Reiters. Offensichtlich hatte der Bursche das Pferd irgendwo gestohlen und war mit dem edlen Tier nicht fertig geworden, sodass er abgeworfen worden war. Geschah ihm recht. So ein Pferd musste man zu handhaben wissen und Ivo war gut im Umgang mit Pferden, wie die meisten Sinti.
„Wir müssen ihm helfen“, meinte Sergio.
„Lass ihn liegen. Wir nehmen das Pferd mit“, sagte Ivo und ritt auf das reiterlose Tier zu. Es ließ sich willig einfangen und schnaubte freudig, als er es mit sich führte.
Inzwischen waren auch die Anderen an der Unglücksstelle angekommen und schauten neugierig auf den Verletzten herab. Ein großer Mann mit vollen schwarzen Haaren und einem ebensolchen Schnurrbart löste sich aus der Menge und trat neben Sergio.
„Lebt er?“, fragte der Mann mit polternder Stimme.
„Ja Vater. Der Puls ist normal. Ist auf den Kopf gefallen, schätze ich“, antwortete Sergio.
Er nahm dem Fremden den Hut ab, um nach einer möglichen Verletzung zu sehen und erstarrte. – Langes, blondes Haar quoll aus dem Hut hervor.
„Eine Frau!“, rief er erstaunt und die Leute kamen neugierig näher.
Man drängte sich um die beste Sicht und Mutmaßungen wurden angestellt. Eine Frau in Männerkleidung und ein kostbarer Hengst. Das gab Rätsel auf und die Sinti liebten Rätsel.
„Macht Platz! Zurück mit euch!“, schnauzte Santino und die Leute wichen etwas zurück, murrten aber und begannen bereits wieder, sich gegenseitig hin und her zu schubsen und voran zu drängen, als der Anführer die junge Frau begutachtete und sie auf den Rücken rollte.
Eine alte Frau kletterte erstaunlich flink von einem der Wagen und die Menge machte ihr respektvoll Platz. Ihre Augen waren blind, aber sie bewegte sich zielsicher auf die am Boden Liegende zu.
„Sie ist Schicksal. Wir müssen sie mitnehmen“, raunte die Alte bestimmt.
Aufgeregtes Gemurmel entstand. Man hatte nicht gerne Fremde im Lager, doch die Alte war eine allgemein respektierte Frau und was sie sagte, war von großer Gewichtigkeit. Sie war die weise Frau, eine Seherin.
„Wessen Schicksal?“, fragte Santino, dem die Sache gar nicht schmeckte, ungehalten.
Die Alte war seine Schwiegermutter und er hatte einigen Respekt vor ihr, was nicht bedeuten musste, dass er gewillt war, diese merkwürdige junge Frau mitzunehmen. Sicher würde es ihnen nur Ärger einbringen. Wer wusste, was dieses Mädchen verbrochen hatte. Womöglich wurde sie gesucht.
„Das weiß ich noch nicht, aber es wäre schlecht für die Sippe, sie hier zu lassen, das flüstern mir die Ahnen. – Sie ist Schicksal!“, antwortete die Alte entschlossen.
Santino kratzte sich am Kinn und musterte skeptisch die merkwürdige Frau in Männerkleidung. Ihm war nicht ganz wohl bei der Sache, aber er wagte nicht, der alten Frau zu widersprechen. Mehr als einmal hatte er erfahren, dass es besser war, auf das zu hören, was sie sagte. Schließlich seufzte er ergeben.
„Also gut. Schafft sie auf einen Wagen, dann geht es weiter. Wir wollen noch ein Stück Weg schaffen, ehe es Mittag wird“, befahl er schließlich mürrisch.
Kapitel 3
Etwas Feuchtes, Kaltesberührte meine Wange. Ich schlug die Augen auf und schaute in die Fratze eines haarigen Monsters.
„Hilfe!“, schrie ich entsetzt auf. Die Zähne des Biests waren lang und spitz und nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt.
„Sie ist wach!“, ertönte eine angenehme männliche Stimme. „Ab mit dir Atoll! Du siehst doch, dass du ihr Angst einjagst.“
Mein Blick fiel auf den Mann, der in der Tür erschienen war. Er sah fremdländisch, aber sehr attraktiv aus. Er schien in meinem Alter zu sein. Sein rabenschwarzes Haar trug er kurz geschnitten, bis auf einen langen, dünnen, geflochtenen Zopf auf der rechten Seite. Die haselnussbraunen Augen, von schwarzen, dichten Wimpern umrahmt, blickten mich freundlich an und ein Lächeln erschien auf seinen Lippen, als er mich interessiert musterte. Instinktiv erwiderte ich das Lächeln, wenn auch ein wenig zaghaft.
Ich schaute mich etwas verunsichert um. Das haarige Monster entpuppte sich als ein riesiger Hund mit zottigem, grauem Fell. Ich hatte solche Hunde schon gesehen. Es war ein Wolfshund.
„Keine Angst. Atoll tut dir nichts. Er wollte nur mal nach dir sehen. – Wir haben uns alle große Sorgen gemacht. Du warst zwei Tage ohne Bewusstsein.“
Zwei Tage? Ich fuhr erschreckt hoch, legte mich aber gleich wieder stöhnend flach. Mein Kopf schmerzte fürchterlich und die plötzliche Bewegung hatte mich schwindelig gemacht. Es puckerte hinter meinen Schläfen und Sterne tanzten vor meinen Augen.
„Zwei Tage?“, fragte ich verwirrt.
Was mochte nur geschehen sein? Das Letzte, an das ich mich erinnerte war, dass ich vor meinem Onkel geflohen war und zwar auf meines Vaters Hengst. Wie also in Gottes Namen kam ich hier her? Und wo war ich überhaupt? Wer war dieser Mann und war das Bett, in dem ich lag, etwa seines? Was war passiert?
„Ja. Zwei Tage. – Wie geht es dir? Hast du noch Schmerzen?“
Er setzte sich auf einen Stuhl neben das Bett und schaute mich prüfend an. Er schien aufrichtig besorgt zu sein.
Ich fasste mir stöhnend an den Kopf.
„Mein Kopf schmerzt. – Was ist passiert?“
„Das wissen wir nicht so genau. Wir fanden dich vor zwei Tagen am Wegesrand. – Anscheinend bist du vom Pferd gestürzt und mit dem Kopf aufgeschlagen. Großmutter Aneta hat sich um dich gekümmert. Sie ist eine weise Frau und kennt sich mit Heilkunde aus.“
„Wo bin ich. – Was ist das ...“ Ich schaute mich erneut in dem Raum um. „... ein Wohnwagen?“, riet ich.
„Ja. Das ist der Wagen von Großmutter Aneta. Wir sind Sinti, fahrendes Volk. Mein Name ist Sergio. Darf ich fragen, wer du bist?“
Zigeuner !, schoss es mir entsetzt durch den Kopf. Ich hatte schon viel von dem fahrenden Volk gehört und das war nichts Gutes gewesen. Alles Diebe, Betrüger und manchmal auch Mörder, so erzählte man sich. Dieser Mann an meinem Krankenlager jedoch sah nicht gefährlich aus. Seine Gesichtszüge waren offen und freundlich. Ich konnte keine Arglist in seinem Gesicht lesen. Ich schien wohl nicht unmittelbar in Gefahr zu schweben. Immerhin hatte man mich nicht ermordet, sondern scheinbar gerettet. Wo war denn nur diese Großmutter Aneta?
„Ich ... mein Name ist Elizabeth. Man nennt mich aber meistens nur Liz.“
Immerhin wusste ich noch, wer ich war? Ich hatte von Leuten gehört, die wirklich jegliche Erinnerung verloren hatten und nicht einmal mehr ihren eigenen Namen kannten. Ich fühlte mich tatsächlich ein wenig erleichtert.
„Liz. Der Name passt zu dir.“
Er musterte mich wohlwollend aber auch ein wenig skeptisch. Es war offensichtlich, dass er nicht so ganz wusste, was er von mir halten sollte. Eine Weile schwieg er, den Kopf leicht schräg gelegt, als müsse er über meine seltsame Erscheinung nachdenken.
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