Eine Weile war Schweigen. Ich lauschte atemlos. War er gegangen? Ich hatte keine Schritte gehört, die sich entfernten. Alles, was ich hörte, war das Klopfen meines eigenen Herzens und das Rauschen meines Blutes in den Ohren.
„Es ist doch alles nur zu deinem Besten“, ertönte Onkel James Stimme schließlich ruhig, beinahe besänftigend. „Du bist nur eine schwache Frau und kannst den Besitz unmöglich allein führen. – Ich nehme dir auch deinen kleinen Angriff von eben nicht übel. Ich habe dich zu sehr bedrängt und bin bereit, dir ein wenig mehr Zeit einzuräumen. Lass uns über alles reden. Mach die Tür auf. – So nimm doch endlich Vernunft an!“, redete er weiter auf mich ein.
„Meine Antwort lautet nein! – Ich denke gar nicht daran! Und ich lasse mich nicht kompromittieren! Ich werde in drei Monaten mündig und dann werdet Ihr hier verschwinden. – Ich kann sehr gut für mich selbst sorgen!“, antwortete ich erregt.
Ich zitterte noch immer vor Angst und Empörung. Was, wenn ich es nicht geschafft hätte, ihm zu entwischen? – Wenn er mit seinem Überfall Erfolg gehabt, mich kompromittiert hätte, dann wäre ich gezwungen gewesen, ihn zu heiraten. – Nicht auszudenken! Allein bei dem bloßen Gedanken daran überkam es mich eiskalt und ich schüttelte mich unwillkürlich.
„Du kannst dich nicht drei Monate in dein Zimmer einsperren Elizabeth! Früher oder später musst du da rauskommen und dann kriege ich dich!“, drohte er.
Ich schloss entsetzt die Augen. Er hatte recht! Ich konnte mich nicht drei Monate hier vor ihm verbergen. Ich war blind davon gerannt und saß nun in der Falle. Das bedeutete, ich musste fliehen, fort von hier, mich verstecken – irgendwo, wo er mich nicht finden konnte. – Noch heute Nacht!
*****
Ich band meineRöcke hoch und öffnete leise das Fenster. Wohltuend kühle Nachtluft drang in das Zimmer und ich atmete die frische Luft tief ein, dann kletterte ich entschlossen auf das Fenstersims und schwang die Beine hinaus. Ich war froh, dass die Tournüre kürzlich aus der Mode gekommen war und ich so bei meiner Kletterei weniger behindert wurde.
Eine kurze Weile blieb ich so sitzen, mit klopfendem Herzen und feuchten Händen. Es war ein waghalsiges Vorhaben, aber ich sah keinen anderen Weg, wenn ich nicht in die Falle meines Vormundes geraten wollte.
„Na dann los, Graham“, sprach ich mir selbst Mut zu.
Vorsichtig suchte ich das Mauerwerk neben meinem Fenster nach dem dicken Hauptstock der alten Weinrebe ab. Ich brauchte nur ein Stück weit klettern, denn bis zum Balkon darunter war es nicht weit. Mit den Füßen hangelte ich nach kräftigen Seitentrieben und begann den Abstieg. Es war eine wackelige Angelegenheit, aber das Weingeflecht hielt und bald hatte ich sicher den Balkon erreicht. Erleichtert lehnte ich mich gegen die schmiedeeiserne Brüstung.
„In Ordnung, Graham. Jetzt ist es fast geschafft!“
Mit frischem Mut schwang ich mich über das Geländer und angelte, mich mit einer Hand am Geländer festhaltend, nach einem Ast des kräftigen Walnussbaumes. Ich brauchte ein paar Anläufe, bis ich den Ast fassen konnte, und zog ihn zu mir heran. Nachdem ich noch einmal tief durchgeatmet hatte, ergriff ich den Ast mit beiden Händen und ließ mich fallen. Es knackte ein wenig, als der Ast unter meinem Gewicht in die Tiefe rauschte – aber er hielt. Als meine Füße nicht mehr weit vom Boden entfernt waren ließ ich los und landete mit einem Plumps auf meinem Hinterteil. Ich konnte gerade noch einen Schmerzensschrei unterdrücken, indem ich mir eine Faust in den Mund schob.
Nachdem ich mich von dem Aufprall erholt hatte, raffte ich mich auf und schlich zum Pferdestall. Es war sehr dunkel, aber ich kannte jeden Winkel von Blue Hall im Schlaf. Ich wusste genau, wie ich zu der kleinen Leiter kam, die zur Kammer des Stallknechtes führte und wusste, dass er seine Kleidung des Nachts immer zum Lüften auf das Fenstersims neben der Tür legte. Auf leisen Sohlen schlich ich die Stiege hoch und schnappte mir das Kleiderbündel.
*****
Im Stall erklommich die Leiter zum Heuboden, zog mich hastig um und verstaute meine Frauenkleider unter dem losen Heu. In Hosen und Hemd gewandet und mit einem zerbeulten Hut auf den hochgesteckten, blonden Locken, kletterte ich wieder herunter. Bargeld hatte ich leider nicht, aber einige kostbare Schmuckstücke, die ich zu Geld machen konnte, versteckte ich im Hut.
Mit schnellen Handgriffen sattelte ich den Hengst und führte ihn durch den Hinterausgang, der direkt auf eine Koppel führte. Hier würde man keinen Hufschlag hören, wie das bei dem Kopfsteinpflaster vor dem Stall der Fall wäre. Ich schwang mich in den Sattel und preschte davon. Ich machte mir nicht die Mühe, am Gatter abzusteigen und es zu öffnen, sondern setzte kurzerhand mit dem Pferd darüber hinweg.
*****
„Hast du auchso einen Durst, mein Guter?“, fragte ich erschöpft und klopfte dem schwarzen Hengst den mächtigen Hals. „Ich glaube nicht, dass man uns schon verfolgt. – Trotzdem müssen wir gleich weiter reiten.“
Die Morgendämmerung hatte bereits eingesetzt, bald würde Onkel James mein Verschwinden bemerken und ich wollte meinen Vorsprung so groß wie möglich halten. Ich konnte mir gut vorstellen, dass er sofort die Verfolgung aufnehmen würde. Das Risiko, von ihm geschnappt zu werden, wollte ich lieber nicht eingehen.
Ich betrachtete kritisch meine Erscheinung in der spiegelnden Oberfläche des Wassers. Ich kam mir selbst fremd vor in den ungewohnten Männerkleidern. Um von meiner makellosen Haut abzulenken, hatte ich mir ein wenig Ruß ins Gesicht geschmiert, doch ich fand, dass ich noch immer zu weiblich aussah. Aus der Nähe würde meine Verkleidung sicher früher oder später auffallen. Meine Augen mit den langen Wimpern waren zu schön für einen Mann.
„Meinst du, jemand durchschaut meine Verkleidung?“, fragte ich an mein Pferd gerichtet und strich mir skeptisch über meine flache Brust. Ich hatte meine Brüste mit Tüchern verbunden, damit sie flach wurden und unter der Männerkleidung nicht auffielen. In den zu großen Hosen und flachbrüstig, sah ich zumindest von der Gestalt her tatsächlich wie ein junger Bursche aus. Wenn doch nur mein Gesicht nicht so weibisch wäre!
„Ich glaube, wir müssen jetzt weiter.“
Nachdem ich meine Wasservorräte aufgefüllt hatte, bestieg ich das Pferd, um den Ritt fortzusetzen.
Zwei Stunden ritt ich wegen der schlechten Bodenbedingungen in mäßigem Tempo, bis ich aus dem Wald herauskam und über eine Wiese galoppierte. Endlich spürte ich wieder den Wind auf meinem Gesicht. Auch der Hengst freute sich über den Galopp und bockte übermütig. Ich tätschelte dem Tier den Hals und lachte.
„Ja, das gefällt dir mein Guter!“
Ich spornte das Tier übermütig an. Der Wind trieb mir Tränen in die Augen, doch ich achtete nicht darauf. Ich war frei! Plötzlich stolperte das Pferd, als es in ein Loch trat und ich stürzte über den Hals des Pferdes hinweg, und landete mit dem Kopf auf einem Stein. Schmerz explodierte in meinem Kopf, dann wurde es dunkel.
Kapitel 2
29. Juni 1888
Die Pferde undbunten Wagen der Sinti bewegten sich langsam die staubige Straße entlang. Die Reisenden hatten es nicht eilig. Manche begleiteten den Zug zu Fuß, andere saßen auf den Wagen oder ritten zu Pferde. Kinder rannten von einem Wagen zum anderen, verfolgt von großen, zotteligen Hunden, die aufgeregt bellten. Hin und wieder vernahm man das Schreien eines Säuglings. Das Geklapper der beschlagenen Hufe mischte sich mit dem fröhlichen Geschwätz der Frauen, dem Geschrei der Kinderschar und den gelegentlichen Rufen der Männer.
Es war ein noch junger Tag und man hatte noch ein gutes Stück Weg vor sich. Die Sonne war angenehm mild um diese Zeit, doch später würde sie sengend auf die Menschen niederbrennen und das fahrende Volk würde für die heiße Mittagszeit sein Lager irgendwo an einem schattigen Plätzchen aufschlagen und den Weg erst am Nachmittag fortsetzen.
Читать дальше