Wie ein schlechter Traum zog die Beerdigung an mir vorüber. Auch den anschließenden Leichenschmaus nahm ich kaum wahr. Die Bediensteten erledigten alle erforderlichen Aufgaben auch ohne Anweisungen. Sie wussten, was sie zu tun hatten. Ich fühlte mich nicht imstande, mich um die Bewirtung der zahlreichen Besucher zu kümmern. Ja, es interessierte mich nicht einmal, ob alles funktionierte oder nicht. Ich war, wie bereits gesagt, nicht mehr Teil dieser Welt.
Meine Eltern hatten sich in den besten Kreisen bewegt und viele angesehene Persönlichkeiten waren zur Beisetzung und dem Leichenschmaus erschienen. Obwohl nicht vom Adel, hatte mein Vater durch seinen geschäftlichen Erfolg unsere Familie in die obere Gesellschaftsschicht gebracht. Vater war ein Arbeitstier und ehrgeizig. Er hatte aus dem einzigen Juweliergeschäft seines Vaters ein kleines Imperium geschaffen. Meine Mutter, immer ein wenig zu ruhig und farblos, war so sehr das Gegenteil von meinem Vater gewesen, dass ich nie verstanden hatte, wie sie zueinander gefunden hatten. Sicher, Mutter war sehr schön gewesen. Wie eine kostbare, zerbrechliche Porzellanpuppe mit zarten Gliedmaßen und großen Augen. Ich hatte sie geliebt, jedoch selten umarmt. Sie erschien mir stets zu sehr wie ein Geschöpf aus einem Feenhügel. Wir waren uns leider nie wirklich nah gekommen. Meinen Vater dagegen hatte ich trotz seiner Härte über alles geliebt. Wir teilten die Leidenschaft für die Pferde und für die Jagd. Er hatte zwar viel Zeit geschäftlich in London verbracht, fühlte sich jedoch genau wie ich auf dem Land am Wohlsten. Wie sehr ich ihn vermisste. Würde dieser furchtbare Schmerz je nachlassen?
*****
Nachdem endlich alleGäste gegangen waren, ließ ich mich von Lucie, meiner alten Amme, auf mein Zimmer im Südflügel des Hauses führen. Ich hatte mich in diesem Zimmer immer sehr wohl gefühlt. Die beiden großen Fenster ließen viel Licht hinein und die gelben Vorhänge sorgten für eine sonnige Atmosphäre. An einer Wand hing ein großes Gemälde von mir im Alter von zwölf auf dem Rücken meiner ersten eigenen Stute; mein Lieblingshund George saß neben dem Pferd und hatte den Kopf schief gelegt. Ich hatte tagelang geweint, als der Hund von einem Keiler tödlich verletzt worden war. Damals war ich vierzehn gewesen. Nun schenkte ich all dem keine Beachtung. Teilnahmslos ließ ich geschehen, dass meine Zofe Marie, ein unscheinbares Mädchen von sechzehn, aber mit großem Geschick fürs Frisieren, mich entkleidete.
„Du gefällst mir gar nicht, Kind“, sagte meine Amme und nötigte mich, mich auf den Stuhl vor meiner Frisierkommode niederzulassen.
Während Marie meine Haare ausbürstete, richtete die alte Lucie, irgendetwas vor sich hin brummend, das Bett. Ich ließ alles reglos, und ohne ein Wort über mich ergehen. Ich wollte weinen, schreien, einfach meine Qual hinauslassen, doch meine Augen blieben trocken, mein Mund verschlossen und innerlich zerriss es mich.
„Komm zu Bett, Liebes“, forderte mich Lucie auf, nachdem Marie mit meinen Haaren fertig war. Ich wollte ihr gern gehorchen, doch ich war außerstande, mich aufzurichten. Mein Kopf war nicht in der Lage, die Befehle an meinen Körper zu senden. Nicht geweinte Tränen brannten in meinen Augen und ich konnte sie nicht hinauslassen. Ein Gefühl von Panik überkam mich und ich hatte das Gefühl, nicht genügend Luft zu bekommen. Meine Brust schmerzte vor Anstrengung, genug Sauerstoff in meinen Körper zu pumpen.
Hilf mir Papa! Ich ersticke!
Meine Hände ballten sich zu Fäusten und meine Nägel bohrten sich tief in das Fleisch meiner Handflächen, doch ich spürte davon nichts. Nur die Angst. Diese entsetzliche Angst.
Plötzlich spürte ich eine sanfte Wärme in meinem Inneren. Wie eine winzige Flamme in meiner Mitte. Die Flamme wurde größer und die Wärme breitete sich aus bis in meine Fingerspitzen und meine Hände entkrampften sich. Meine Brust hob und senkte sich wieder ohne Schmerz und ich atmete tief ein und aus.
„Alles in Ordnung mit Euch?“, fragte Marie besorgt.
Ich antwortete nicht, aber wandte den Kopf, um sie anzusehen. Nein! Ich war nicht in Ordnung. Aber besser!
Erst als Marie meinen Arm ergriff, erhob ich mich und ließ mich von ihr zum Bett führen.
Lucie bedeutete mir, mich hinzusetzen und hielt mir einen Becher entgegen. Ein strenger Geruch stieg mir in die Nase. Wieder so ein Kräutergebräu meiner Köchin, die sich gut mit allerlei Tränken und Tinkturen von Kräutern auskannte. Meist half, was sie so zusammenbraute, wenn es auch furchtbar schmeckte.
„Hier mein Kind. Trink dies. Es wird dir helfen, gut zu schlafen“, sagte Lucie.
Gehorsam leerte ich den Becher mit dem leicht bitteren Gebräu und ließ mich zurück auf die Kissen sinken. Die Amme deckte mich sorgsam zu, dann verließ sie mit der Zofe das Zimmer und ließ mich allein zurück. Endlich kamen die Tränen und als sie erst einmal zu Laufen angefangen hatten, wollten sie kein Ende finden, bis ich schließlich erschöpft einschlief.
*****
Am nächsten Morgenfühlte ich mich wie gerädert. Ich hatte sehr schlecht geschlafen, wirre Träume hatten mich mehrmals aus dem Schlaf aufschrecken lassen. Ich vermutete, dass mein Schlaftrunk Laudanum enthalten hatte.
Teilnahmslos ließ ich mich von Marie ankleiden und frisieren und nahm dann ein kleines Frühstück im Salon ein. Die frischen Apfeltörtchen und die Minzpastetchen, die ich sonst so gern aß, schmeckten mir heute nicht. Jeden einzelnen Bissen musste ich mit Gewalt hinunter zwingen und dabei den Reflex, zu würgen, unterdrücken. Ich aß nur, um meine Köchin Martha nicht zu kränken, die eine liebe Seele war. Ich hatte kein Interesse mehr an diesem Leben. Das bedeutete aber nicht, dass es mir egal war, wenn ich Leute verletzte, die mir etwas bedeuteten. Und meine Köchin bedeutete mir viel. Sie war schon in unserem Haushalt, solange ich denken konnte. Martha war klein und rund, hatte Arme und Hände wie ein Schmied, aber ein Herz aus Gold. Sie war diejenige, die meine Tränen getrocknet und mir Apfelküchlein in den Mund geschoben hatte, wenn Papa mich gescholten oder wenn ich mich verletzt hatte.
Ich war zwar durch die Reisen meiner Eltern gewohnt, allein zu speisen, doch es war ein Unterschied, ob sie nur auf Reisen waren, oder ob ich wusste, dass sie nie wieder mit mir an einem Tisch sitzen würden. Ich vermisste sogar Mamas Zurechtweisungen. Immer hatte sie etwas an mir auszusetzen gehabt. „Sitz gerade, Elizabeth!“ oder „Kannst du nicht dein Besteck benutzen, wie jeder anständige Mensch?“, würde sie sagen und Papa würde seine Serviette an den Mund halten, um sein Grinsen zu verbergen. Dann würde er sich räuspern und die Stimme erheben. „Hör auf deine Mutter, Elizabeth Sofia!“ Er nannte mich immer bei meinen beiden Vornamen, wenn er mich tadelte. Sonst nannte er mich immer liebevoll Liz oder Lizzie.
„Wünscht Ihr noch etwas?“, riss das Dienstmädchen mich aus meinen Tagträumen.
Ich schüttelte trübe den Kopf. Die Minzpastetchen lagen mir schwer im Magen und ich fühlte mich elend. Ich konnte mir nicht vorstellen, auch nur einen Tag weiter so leben zu können. Ich vermisste sie so sehr. Der Schmerz zerrte an meinen Eingeweiden. Ich konnte mir nicht vorstellen, jemals wieder lachen zu können.
„Nein Molly. Danke. – Ich werde ein wenig ausreiten.“
„Euer Herr Onkel wird bald eintreffen. Wollt Ihr ihn nicht begrüßen?“, fragte Molly besorgt.
„Ich bleibe nicht lange weg – nur ein kurzer Galopp. Ich brauche – frische Luft“, krächzte ich, sprang von meinem Stuhl auf und verließ fluchtartig den Raum.
*****
Ich zügelte denLieblingshengst meines Vaters; einen schwarzen Friesen aus den Niederlanden; mit langer, wallender Mähne und einem edlen Kopf mit klugen Augen; vor dem Stallgebäude. Ich hatte mein eigenes Reitpferd, eine kastanienfarbene Stute von ausgeglichenem und freundlichem Wesen, doch ich hatte mehr Freude an dem Temperament des schwarzen Hengstes. Außerdem hatte das Tier meinem Vater gehört und ich fühlte mich ihm näher, wenn ich seinen Hengst ritt. Vater war ein ausgezeichneter Reiter gewesen und er selbst war es gewesen, der mich das Reiten gelehrt hatte. Er war ein strenger Lehrer gewesen, doch ich war eine eifrige Schülerin, stets darauf bedacht, ihn stolz zu machen.
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