Getrieben von innerer Anspannung entschloss ich mich, Herrn M. bei Gelegenheit anzusprechen. Ein klärendes Gespräch von Mann zu Mann hatte schon so manchen Konflikt gelöst. Bereits zwei Tage später sah ich den Nachbarn wieder in seinem Garten stehen. Entschlossen ging ich auf ihn zu und stellt mich auf dem Gehweg vor seinen Gartenzaun. Freundlich grüßte ich ihn, bat ihn näher heran und versuchte, ihn diplomatisch auf die gegenwärtige Situation aufmerksam zu machen. Dabei bat ich ihn, nicht weiter in dieser Art und Weise mit uns umzugehen, und hoffte auf seine Einsicht.
Überraschend vertrat Herr M. den Standpunkt, dass doch nichts passiert sei. Er könne nicht verstehen, was eigentlich los sei. Ich versuchte, ein wenig auszuholen und noch einmal auf die Beleidigungen beim Parken und die wiederkehrenden ironischen Lächelaktionen zu sprechen zu kommen. Herr M. fiel mir dabei immer wieder ins Wort und stritt solch subtile Handlungen wie das ironische Anlächeln ab. Beim Parken vor seinem Haus, so der Nachbar, sei ich doch selbst schuld gewesen, seine Frau habe schließlich nur ihr Missfallen zum Ausdruck gebracht, und dies sei legitim. Angesichts dieser unbefriedigenden Antworten des Nachbarn war ich für einen Moment sprachlos.
Nachdem ich meine Gedanken geordnet hatte und zu der Erkenntnis gekommen war, dass die Geschehnisse der Vergangenheit für Herrn M. kein akzeptabler Diskussionspunkt waren, wollte ich zumindest das zukünftige nachbarschaftliche Zusammenleben klären. Doch Herr M. nahm mir wieder rasch das Wort ab und kam sofort auf seine Sicht der Dinge zu sprechen. Er stellte dabei ein Ultimatum, wonach er sich eine einvernehmliche Nachbarschaft nur unter Erfüllung seiner Bedingungen vorstellen könne. Nur seine Überlegungen seien die Grundlage einer gut funktionierenden Nachbarschaft. Dabei legte er einen Ton in seine Stimme, der vor Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit strotzte. Alles im allem klang dies nach dem bisher Erlebten wie Hohn in meinen Ohren, und so ging ich zerknirscht zurück zu meiner Frau und unterrichtete sie über das Gesagte des Nachbarn.
Das so hoffnungsvoll begonnene Gespräch mit dem Nachbarn endete damit in einem Desaster. Der Nachbar hatte mir letztlich eröffnet, dass er mit seiner Frau bestimmen wollte, wie wir uns gegenüber Familie M. zu positionieren hatten. Deren dekadente Lebensweise und deren Milieu sollten wir ohne Widerspruch akzeptieren, nur dann konnten wir davon ausgehen, dass wir in Zukunft ein ruhiges Leben führen würden. Aus unserer Sicht erwarteten die Nachbarn von uns ein devotes Verhalten. Sie waren im Begriff, eine Art Führungsrolle zu übernehmen, und wollten über uns bestimmen, eine törichte und bedrückende Anmaßung. Die Lage schien verzweifelt.
Einige belastende Fragen stellten sich: Was war jetzt zu tun? Wie sollten wir auf das anmaßende Verhalten der Nachbarn M. reagieren? Sollten wir überhaupt irgendeine Reaktion zeigen?
Nach tagelangen Überlegungen und Abwägungen beschlossen wir, weder in positiver noch in negativer Weise zu reagieren. Wir wollten nicht auf die unverschämten Forderungen eingehen, verbunden mit der Hoffnung, es werde sich vielleicht doch noch alles einrenken. Vor allem wollten wir nicht mehr diskutieren und den Nachbarn zudem keinen Anlass bieten, von uns Unmögliches zu verlangen. Trotzdem wollten wir den Spagat wagen und den Kontakt zwischen Maria und Penny aufrechterhalten, denn auf die Kinder sollte sich das drohende Zerwürfnis nicht auswirken.
Natürlich erwies sich die Umsetzung unserer Vorstellung in die Praxis als schwierig, denn die Nachbarn versuchten, durch den Kontakt der Kinder auch Kontakt zu uns herzustellen. Die kleine Penny wurde von ihren Eltern benutzt, um Botschaften an uns heranzutragen. Das Kind äußerte, sobald es sich bei uns im Haus zum Spielen aufhielt, dass seine Eltern sich gern mit uns treffen würden und wir uns bei ihnen melden sollten. Wir ließen das Werben der Nachbarn unbeantwortet, um den von uns initiierten Prozess des Auseinanderlebens nicht zu unterbrechen. Selbst eine zufällige Begegnung mit den ominösen Nachbarn versuchten wir zu verhindern, indem Stephanie und ich vor dem Verlassen des Hauses zuerst aus der Haustür schauten, ob sich irgendwo die Nachbarn M. zeigten.
Allerdings konnte ein zufälliges Zusammentreffen nicht gänzlich ausgeschlossen werden, da wir schräg gegenüber den Nachbarn wohnten und eine Begegnung in der Natur der Sache lag, wenn meine Frau oder ich nach Hause kam.
Auffällig war hierbei, dass plötzlich immer öfter einer der Nachbarn M. in ihrem Vorgarten stand, wenn einer von uns nach Hause kam. War das Zufall? Unweigerlich begegneten sich dabei unsere Blicke. Mit einem freundlichen, aber kurzen Gruß, meist verbunden mit einem Handzeichen, grüßte Stephanie oder ich zuerst, was von den Nachbarn M. stets mit einem bohrenden Blick erwidert wurde.
Damit war aus unserer Sicht die Grundlage für eine sorgfältig gesteuerte und unvermeidliche Trennung geschaffen. Bestärkt wurden wir darin von Freunden und Bekannten, die genau wie wir der Meinung waren, dass es letztlich jedem selbst überlassen sein musste, mit wem er nachbarschaftlichen oder freundschaftlichen Kontakt halten möchte. Daher waren wir sicher, dass wir uns auf dem richtigen Weg befänden.
Einige andere Nachbarn, die zuvor mit misstrauischen Blicken unseren Umgang mit den Nachbarn M. zur Kenntnis genommen hatten, bemerkten den Wandel und hießen diesen gut. Dabei waren in den entsprechenden Gesprächen aber auch warnende Worte zu hören, die darauf hinwiesen, dass sich die Nachbarn M. zukünftig ausgegrenzt fühlen könnten und es zweifelhaft sei, dass sie dies einfach hinnehmen würden. Diese Ansichten der Nachbarn machten uns etwas nervös.
Im Laufe der folgenden Wochen kam es zu wiederholten Versuchen vonseiten der Frau und des Herrn M., mit Blicken und Anlächeln um Kontakt zu uns herzustellen, wobei die Nachbarn Stephanie und mich zunehmend beobachteten, wenn wir uns im Garten oder auf der Straße bewegten. Zusätzlich wurde von nachbarschaftlicher Seite getuschelt und gelacht.
Wir ignorierten diese subtilen Formen von Belästigung und grüßten die Nachbarn freundlich in der Erwartung und Ansicht, wir müssten nur lange genug das Ignorieren weiterer Kontaktversuche durchhalten, um das drohende Schicksal zu entkommen.
Privat ging es 1998 voran, Stephanie blieb ihrer Arbeit als Krankenschwester noch fern und versorgte die ein Jahr alt werdende Sina. Das Ende meines Zweitstudiums zeichnete sich ab, im nächsten Jahr sollte die Diplomarbeit folgen, und meine kleine Firma warf ab und an Gewinne ab. Wir konnten eigentlich zufrieden sein.
Das Jahr ging schließlich seinem Ende entgegen und das neue begann. In der kalten Jahreszeit zu Beginn des Jahres waren die Begegnungen mit den Nachbarn nicht sehr zahlreich und deren Zudringlichkeit hielt sich in Grenzen.
Zu Beginn des Frühjahrs 1999 änderte sich diese Situation. Mit den ersten warmen Sonnenstrahlen weilten die Nachbarn M. wieder vermehrt an ihrem Gartenzaun und beobachteten die Straße und die übrige Umgebung. Herr und Frau M. waren nun überwiegend zu Hause. Frau M. übte keine berufliche Tätigkeit aus, Herr M. war die letzten Jahre vor seiner Pensionierung angeblich krank, ging aber seiner nebenberuflichen Tätigkeit mehrmals in der Woche nach. Diese Beschäftigung bezeichnete er selbst als Schwarzarbeit.
Wir stellten eine weitere Situationsveränderung fest, denn bei jeder Begegnung kam es nun bei den Nachbarn M. verstärkt zu Lachattacken, einhergehend mit Blicken in unsere Richtung.
Nach und nach beschlich uns ein beklemmende Gefühl. Die wachsende Neigung der Nachbarn, uns mit Blicken und Gelächter zu verfolgen, musste ihnen in ihrer Erfüllung eine Art innere Befriedigung verschaffen. Stephanie und ich gingen jedes Mal mit dunkler Vorahnung auf die Straße, um zum Auto zu gelangen. Jederzeit mussten wir damit rechnen, dass einer der beiden oder beide Nachbarn sich bereits in der Nähe befanden und das Grundrecht auf Unverletzlichkeit unserer Person wiederholt missachteten.
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