Die Wochen vergingen und der Sommer 1998 zeigte sich überwiegend von seiner angenehmen Seite. An einem heißen Wochenende im August 1998 waren wir in den Garten meiner Eltern eingeladen. Maria tollte herum, Stephanie und Sina suchten zumeist im Schatten einen Platz. Ich badete mit Gordon im See, und wir ließen es uns richtig gut gehen. Gegen Abend packten wir unsere Sachen und fuhren wieder nach Hause.
Es war bereits dunkel, als wir dort ankamen. In unserer kleinen Wohnstraße hatten erstaunlich viele Fahrzeuge geparkt, weshalb ich mich kurzerhand entschloss, vor der Toreinfahrt der Nachbarn M. zu halten, um die bereits schlafenden Kinder ins Haus zu tragen. Herr M. war am frühen Morgen mit dem Pkw zu seiner hauptberuflichen Arbeit gefahren. Es bestand also keine Gefahr, dass er plötzlich mit seinem Fahrzeug auftauchen würde, da er in der Regel 24-Stunden-Dienste absolvierte. Damit war klar, dass Familie M. von meinem kurzzeitigen Halten vor ihrer Ausfahrt nicht belästigt werden konnte.
Stephanie und ich trugen die Kinder in unser Haus. Alsdann lief ich in Richtung des Autos, um es weiter entfernt auf der Straße einzuparken. Als ich in die Nähe meines Fahrzeuges kam, sah ich plötzlich im Dunkeln Frau M. in ihrem Vorgarten stehen, nahe ihrer Ausfahrt. Ich grüßte mit einem freundlichen „Hallo“. Frau M. begrüßte mich ebenfalls, doch in einer für mich völlig überraschenden und abscheulichen Weise. Sie rief: „Eh Arschloch, fahr Deinen Dreckskarren hier weg, hau hier ab, Du Penner“, denn angeblich käme sogleich ihr Mann zurück.
Ich entgegnete ruhig, warum sie sich so aufrege, denn hier kurzzeitig zu stehen sei keine Schandtat und ihr Ehemann käme sowieso erst am nächsten Tag nach Hause.
Sie ignorierte meine Bemerkung und entgegnete wieder mit beleidigenden Worten: „Hau ab, Penner, Du hast hier nicht zu stehen.“
Ich war schockiert und überlegte, dass in diesem Moment ein sinnvolles Gespräch nicht zustande kommen würde. Deshalb stieg ich widerspruchslos in mein Auto, fuhr ein ganzes Stück zurück und parkte dort in der Straße. Als ich anschließend vom Auto in Richtung meines Hauses ging, stand Frau M. noch immer an ihrem Gartenzaun und beobachtete mich. Sie starrte mich provozierend an und lachte mich schallend aus, dabei sprach sie laut in meine Richtung: „Da is a, da is a“, anschließend lachte sie erneut laut auf.
Als ich unser Haus betrat, kam Stephanie mir bereits entgegen, sie hatte einige Worte der Nachbarin durch die geöffneten Fenster gehört. Sie fragte mich sofort, ob etwas vorgefallen sei. Ich zuckte mit den Schultern und brachte kein Wort hervor, so stark wirkte noch immer der abendliche Überfall. Nach kurzer Besinnung berichtete ich ihr, was geschehen war.
Stephanie und ich sahen uns eine ganze Weile wortlos an. Wir benötigten einige Minuten, um das Geschehene zu verarbeiten. Nun spürte ich, mehr als je zuvor, eine unheilvolle Entwicklung.
Das außergewöhnliche Ereignis dieses Abends und die dabei ausgesprochenen unerhörten Provokationen und Beleidigungen, beschäftigten mich fortwährend. Ich und Stephanie hofften, dass es sich um einen einmaligen Ausrutscher der Frau M. handelte und ihr Mann davon nichts wisse. Die Ernsthaftigkeit der Situation war uns noch immer nicht hinreichend bewusst, wir verdrängten das Erlebte, vielleicht um uns selbst Mut zu machen und uns irgendwie einzureden, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.
Vielleicht war das Auftreten der Nachbarin vom Alkohol bestimmt gewesen oder sie hatte tagsüber viel Stress gehabt? Jedenfalls wollten Stephanie und ich nicht von einer grundsätzlichen nachbarfeindlichen Haltung ausgehen, wir beschlossen aber, künftig aufmerksamer zu sein.
Bereits am nächsten Tag folgte ein weiteres Ereignis. Herr M. kehrte früh am Morgen erwartungsgemäß von seinem Dienst zurück, parkte den Pkw vor seinem Haus und stieg aus. In diesem Augenblick stürmte Frau M. aus dem Haus, begrüßte ihren Mann und begann sofort gut hörbar, über den gestrigen Abend zu berichten. Mit einem triumphierenden Unterton erzählte sie ihm, wie sie mich am Vorabend von der Straße gescheucht habe, und unterbrach sich dabei immer wieder selbst durch Lachattacken. Herr M. hörte ihr auf der Straße stehend aufmerksam zu, konnte bisweilen ein Kichern nicht unterdrücken und sprach dabei meinen Namen aus. Beide belustigten sich noch einige Zeit auf der Straße über die üble Aktion der Frau M. und gingen anschließend in ihr Haus. Es war unglaublich, was ich da durch das offene Fenster hörte, und ich berichtete Stephanie davon, die sich in dieser Zeit um Sina kümmerte.
Stephanie und ich fühlten uns danach noch schlechter, denn nunmehr schien klar, dass Frau M. ihren Angriff nicht im Affekt unternommen hatte, und falls doch, dann hieß sie dies im Nachhinein noch gut und belustigte sich darüber. Ein unglaublicher Vorgang, wir waren geschockt. In einem weiteren Gedanken wurde auch deutlich, dass Herr M. nach seiner Reaktion das Tun seiner Frau billigte. Uns erstaunte auch, dass sich die Nachbarn M. über mögliche Konsequenzen offenbar nicht im Klaren waren. Denn nun mussten sie damit rechnen, dass wir jeglichen Kontakt abbrechen würden, doch das schien ihnen egal zu sein, womit sie ihre gestörte Persönlichkeit erneut offen zeigten.
Die nächsten Tage hielten eine Überraschung für uns bereit. Freundlich grüßten die Nachbarn M. mit einem „Hallo“ oder einem Winken auf der Straße, wenn sie Stephanie oder mich sahen. Als ob nichts vorgefallen wäre, als ob es zu keiner Kränkung gekommen wäre, grüßten und lächelten sie in unsere Richtung, sobald einer von uns die Straße oder das Grundstück betrat. Wir waren verwirrt.
Das Verhalten der Nachbarn war unklar und widersprüchlich. Es stellte sich für uns zunehmend die Frage, ob den Nachbarn M. ihr vorheriges Tun nicht bewusst war oder ob dies vielleicht ihre Art war, darüber hinwegzugehen. Oder gab es da vielleicht andere diffuse Überlegungen?
Auch sprach die Nachbarin M. Stephanie oder mich wieder an, wenn es nach ihrer Meinung bezüglich des gemeinsamen Spielens der Mädchen etwas zu bereden gab. Als ob sich kein Vorfall am Gartenzaun ereignet hatte, wiederholte sie gebetsmühlenartig, dass Maria endlich auch zu ihr kommen solle, um mit Penny zu spielen. Diesen altbekannten Vorschlag der Frau M. lehnten wir immer wieder ab. Denn insbesondere nach den letzten Kränkungen wollten wir unsere kleine Tochter auf keinen Fall zu einer Familie gehen lassen, die sich schlimmer als die Flodders benahm.
Für diese Ablehnung ernteten wir weitere böse Blicke. Das begleitende Lächeln war nach unserem Eindruck keine freundliche Geste, sondern vielmehr ein ironisches Lächeln, das eine Überlegenheit in dieser Situation demonstrieren sollte. Noch immer konnten wir nicht fassen, warum die Nachbarn M. dies taten. Welche Erwartungen standen hinter ihrem ironischen Verhalten?
Das Gebaren der Nachbarn M., das immer stärker von Beobachtungen und Neugier uns gegenüber geprägt war, stieß uns ab. Gleichzeitig aber sprachen sie uns auch normal an, um über unsere Töchter zu sprechen. Dies zeigte letztendlich die absurde Einstellung der Nachbarn. Unser Gefühlszustand schwankte, das widersprüchliche Treiben der Nachbarn irritierte unsere geradlinigen Gedanken. Nach und nach drängte sich uns die Erkenntnis auf, dass das Verhalten der Nachbarn M. ein wohlüberlegtes und nicht zufälliges sei. Offenbar wollten sie uns mit einer Reihe von subtilen und diffusen Handlungen ihren Willen aufzwingen, in unser Leben eindringen, das nachbarschaftliche Verhältnis nach ihrem Wunsch steuern und Schmähungen über uns bringen, die wir widerspruchslos hinnehmen sollten.
Nach unserer Überzeugung bewiesen die Nachbarn M. damit eine überaus beschränkte Gedankenwelt, in der eine selbstkritische Prüfung ihres Verhaltens uns gegenüber nicht vorgesehen war.
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