Das Grab ist leer, Jesus ist auferstanden, im Grab ist er nicht zu suchen. Und Platon sagte über das Sterben, dass der Mensch nur ein Kleid ablegte, die Seele sei unsterblich!
Ich konnte es fühlen, es war nur Gustavs altes, wunderschönes Kleid. Jetzt ist seine Seele noch weiter und feiner als vorher. Ich spürte sie im Raum, und ich betete mit Danno ein Vaterunser. Ich betete auch laut ein freies Gebet. Wir gingen hinaus und Lenchen und Max kamen und wir gingen dann zu viert ins Zimmer. Das war nun ein anderes Gefühl als das, das Danno und ich zuvor gehabt hatten, als wir allein mit Gustavs Seele gewesen waren.
Lenchen und ich gingen zu Maria, die noch klein und gebückt unter der Dusche stand, und teilten ihr mit, dass Gustav gestorben sei. Sie schien einigermaßen gefasst, was aber nur ein Schutz ihrer Seele war, für sie war es ein Schock, eine Katastrophe … Lenchen und ich halfen ihr beim Anziehen. Maria trug schwarz, genau wie ich. Wir gingen dann gemeinsam mit Danno und Max in Gustavs Zimmer. Maria weinte und weinte. Lenchen stützte sie und ich betete noch ein Vaterunser und ein freies Gebet und ermunterte die anderen, auch ein Gebet vorzutragen. Ich blieb die Einzige. Wir verließen dann Gustav, d. h. sein Kleid, das er nun abgelegt hatte, und fühlten den Abschied und brachten Maria in ihr Zimmer. Ich kümmerte mich darum, dass sie gleich Besuch von der jungen Frau vom Hospiz bekam und rief Tante Lotti an, dass sie doch schon vor der Beerdigung kommen möge, was sie dann auch tat.
Danno und ich fuhren zurück nach S. Wir waren ganz erschöpft und wir brauchten beide Ruhe, da wir die ganze Nacht nicht geschlafen hatten. Ich spürte Gustavs Energie bei mir und war ganz ruhig. Ich hatte die Kraft, die Kinder von Onkel Ernst anzurufen. Onkel Ernst war schon vor zehn Jahren gestorben. Er war damals 90 Jahre alt.
Lenchen und Max wollten nur eine Beerdigung im kleinsten Kreis, warum auch immer. Für mich, aber auch für Danno war klar, dass es eine angemessene Beerdigung für Gustav geben müsse.
Wir setzten uns dafür ein. Das war sehr anstrengend. Es brachen alte Familiensystemmuster hervor, die Danno und ich als so Kräfte zehrend empfanden, dass wir uns jetzt auf der Kur noch nicht davon erholt haben.
Tante Lotti kam drei Tage vor der Beerdigung und quartierte sich im Seniorenheim bei Maria ein und sorgte für sie. In der Zeit konnte ich mich um die Beerdigung kümmern und Lenchen machte ihren Teil.
Am Tag der Beerdigung war Maria aufgeregt und irgendwie sehr wach und doch auch weit weg. Sie stand unter Schock. 90 Jahre war Gustav an ihrer Seite gewesen, als Kinder mal mehr, mal weniger, aber irgendwann waren die beiden nur noch zusammen, sie waren nie wirklich getrennt.
Gustav wurde noch einmal in der Kirche aufgebart, nur für uns, für Maria, Danno und mich.
Danno und ich hatten Rosen aus unserem Garten mitgebracht, um sie Gustav in den Sarg zu legen. Gustav hatte einen dunklen Anzug an und ein weißes Hemd mit Krawatte. Danno sagte anschließend zu mir: „Gustav hat das Gesicht eines wirklich außergewöhnlichen Weisen. Es ist ein hoch durchgeistigtes Gesicht!“ Ich konnte allerdings schon ein wenig den Verwesungsprozess erkennen, da die Beerdigung eine Woche nach Gustavs Tod stattfand. Ich fühlte sehr deutlich, dass seine Seele sich befreit hatte. Gustav war anwesend, als sehr intensive Kraft.
Jedenfalls kamen viele Leute auf die Beerdigung, Cousinen und Cousins ersten und zweiten Grades. Es war ein Wiedersehen, eine tiefe Verneigung vor Gustav, seinem Leben und Wirken.
Es kamen auch Valentins, die Eltern von Frederik, und er selbst. Er war meine intensive Jugendbeziehung gewesen. Ich wusste zu der Zeit, als ich die Nachricht von Gustavs Tod und seiner Beerdigung versendete, nicht, ob Frederiks Eltern noch leben. Aber sie kamen und auch Frederik, darüber freute ich mich. An Gustavs Grab hat Frederik so sehr geweint, dass ich glaubte, er fiele in das Grab. Ich war tief berührt, denn irgendwie wusste ich, dass auch ich gemeint war, dass das Weinen auch mir galt, denn er hatte mich so sehr geliebt, und ich hatte ihn verlassen.
Es war eine für Gustav würdige Beerdigung, obwohl ich gern noch viel mehr getan hätte, ich hätte gern eine Anzeige in der Zeitung aufgegeben, sodass viele Menschen, die Gustav und Maria aus früheren Jahren und auch besonders aus der Geschäftszeit kannten, die Möglichkeit gehabt hätten, sich still von Gustav zu verabschieden oder aber zur Beerdigung zu kommen. Aber vielleicht war das gar nicht nötig! Ich weiß das nicht.
Maria hielt tapfer durch, bis spät abends. Die Schockwirkung von Gustavs Tod hielt noch lange an …
Danno und ich überlegen, ob wir Maria zu uns holen sollten, d.h. in ein Seniorenheim in S. Da könnten wir uns besser um sie kümmern, da wir nicht die lange Autofahrt hätten. Ich versuche, zur Ruhe zu kommen, und ich werde jetzt weiter gegen die Zeit anschreiben, mit dem Zeit- und Raumkontinuum, jenseits von Zeit und Raum, dennoch mit qualitativer Zeit und einem besonderen Raumbewusstsein …
Nun geht es weiter mit meiner Kindheitsgeschichte in Mel. Gustav war also schon damals mit mir auf Augenhöhe. Ich durfte, genau wie Lenchen es getan hat, als sie noch jünger war, so drei Jahre alt, Gustavs Haare kämmen, die sehr fein, aber sehr üppig und etwas lockig waren. Das machte mir einen Riesenspaß und Gustav auch, denn ich band ihm Schleifen ins Haar und Maria lachte.
Und einmal hatte Maria mich auf ihren Schoß genommen, sie hatte ein ockergelbes Strickkleid an, das kratzte. Sie hielt mich auf dem Schoß und sang mir ein Lied. Mehr war wohl nicht möglich aufgrund der Starre und des Schocks, die sich besonders in ihrem Gemüt als Antwort auf ihre Schreckenserlebnisse im Krieg und durch die Knochentuberkulose breit gemacht hatten. An mehr Zärtlichkeit kann ich mich nicht erinnern und die hatte auch nicht stattgefunden. Maria konnte ihre Kinder nicht streicheln.
Ich hatte einen Teddy, mit dem ich am liebsten spielte und mit dem ich zärtlich war.
Besonders liebte ich einen alten kaputten Regenschirm. Zu dem sagte ich „Lu -Lu“ und ich baute mir mit diesem Schirm irgendwie eine Höhle und fühlte mich unter ihm geborgen. Ich hatte kleine Hausschuhe mit Entchen aus Stoff darauf, die trug ich besonders gern.
Und einmal, als Lenchen in der Schule war, sie besuchte nun das Gymnasium in einer nahe gelegenen Kleinstadt, nahm ich ihre Puppe, die hatte weiße Zähne und lachte. Ich hatte die Idee, sie müsste die Zähne geputzt bekommen. Ich holte meine Zahnbürste und scheuerte auf den Zähnen der Puppe herum. Das Ergebnis war, dass sie nun fast zahnlos dreinschaute. Ich hatte mit viel Geschick die Zähne abgebrochen. Das tat mir leid. Lenchen war natürlich traurig darüber oder ärgerlich oder beides, was ich auch verstanden hatte. Von da an wusste ich, dass man Puppen nicht die Zähne putzen darf!
Wenn ich also manchmal etwas getan hatte, von dem meine Mutter meinte, dass es nicht recht sei, dann bin ich zu ihr hingelaufen und habe gesagt: „Mutti, hau, aber nicht so doll!“ Das hat Maria oft voller Rührung erzählt.
Ich bin weder geschlagen noch sind mir Schläge angedroht worden. Maria wusste also nicht, warum ich das tat. Ich denke, es wusste in mir damals schon, warum ich das sagte und warum ich hier war, mich hier inkarniert hatte. Es war mir natürlich nicht bewusst. Es war, als ob ich irgendetwas büßen, wieder gut machen müsste, was lange her war, lange vor diesem Leben oder was weiß ich!? -Vielleicht war es der Hang dazu, eine Art Märtyrer zu werden oder sonst etwas? Lenchen ärgerte mich manchmal. Sie brachte mir häufig ihr nicht aufgegessenes Brot mit und tat so, als ob sie mir ein großes Geschenk mitgebracht hätte. „Ich hab was ganz Besonderes für dich“, sagte sie mit leuchtenden Augen zu mir. Und ich freute mich reinen Herzens und fragte: „Was denn?“ –„Hasenbrot“, antwortete sie. „Das ist was ganz Feines!“ Dann gab sie mir ihre alten Butterbrote, und ich war irgendwie enttäuscht, aß das Brot dennoch vollständig auf, im Glauben, dass das etwas Besonderes sei!
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