1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 Mir war damals schon klar, dass ich einer von denen war, die den falschen Idolen der heutigen Welt dienten – dem Profit. Jeder mitfühlende Arbeitnehmer weiß natürlich, warum die Besitzenden heutzutage die unglücklichsten Menschen unter der Sonne sind. Geld ist ein falsches Idol, Geld macht nicht glücklich - Sex ist kein falsches Idol, er ist ein gutes – er macht glücklich.
Ich stand dazu, auch wenn ich wusste, dass Begierde schnell zur Gier werden kann, doch kann begehren auch bekehren, wie es Oma Hannah immer sagte. Sie war die Frau in meinem Leben, die mich behutsam dazu brachte, etwas dafür zu tun, um etwas anderes zu bekommen.
In diesem Moment begehrte ich Laila. Etwas zu begehren gehört zur menschlichen Natur. Wenn man nichts mehr will, ist man vermutlich schon im Vorstadium des Todes.
Also zog ich einen der prächtigen Stängel aus dem Bündel, zahlte und lief die verbleibenden einhundert Meter über den Neumarkt bis hin zur Marktgasse 27. Diese Blüte war zu lang, um sie unter dem Jackett zu verbergen. Außerdem trug ich keine Jacke. Jemand hatte die Haustür offen gelassen und ich sauste die Treppen empor, bis ich zaudernd auf einem der Zwischenabsätze stehen blieb, um über einen vielleicht meine Ehre vernichtenden Angriff oder den feigen Rückzug zu entscheiden. Noch niemals in meinem Leben war ich so unentschlossen, ja geradezu unsicher. Traurig? Memmenhaft?
Nicht einmal die Geländerköpfe, mit ihren drallen Kugeln und vorwitzigen Nippeln darauf, konnten mich erheitern. Ich schlich weiter. Von oben herunter kam pfeifend ein Bursche gesprungen. Die Stufen zitterten unter der Wucht seiner athletischen Kraft. Er grinste und schlug einen Haken um mich. Unterhalb rief er mit einem kleinen Jauchzen in der Stimme zu mir zurück:
»Lizzy ist nicht zu Hause! «
Aha, also nur Lizzy verdiente es in diesem Hause, dass man Blumen schenkte. Das war der Wendepunkt hin zu meinem wiedererstarkenden Mut. Ich war der Held, der einer anderen als Lizzy Blumen brachte.
Vorsichtig öffnete sich die Tür. Laila trug wieder diese Kopfhörer und riss sich sofort die dunkle Brille vom Gesicht.
»Matthi΄s«, hauchte sie. Wie der fade Schatten des Mondes wanderte die Blässe von ihrer Stirn abwärts. In mir ergoss sich ein warmes Gefühl und zugleich traf mich ein kalter Blitz. Matthi΄s hatte sie gesagt. Matthi΄s – und wie sie das sagte. Das erste A betont, das zweite verschluckt.
Ich reichte ihr die weiße Rose und aus dem Schatten des Mondes kroch urplötzlich die Sonne über Lailas Muskatgesicht bis hinter die Ohren. In ihrer Erregung ähnelte sie jenen Frauen, die gerade ihren Orgasmus erlebten. Bei mir verhinderte ein fetter Kloß im Hals jedes weitere Wort, während ihre Augen strahlten. Sie liebkoste die Rose und drückte sie samt Brille und Kopfhörer an ihre Brust. Mit der anderen Hand zog sie mich durch den Flur.
Wie sie so erhaben, mit der weißen Unschuld vor ihrer Brust, neben mir her schritt, konnte ich noch nicht ahnen, wie sehr mir gerade der Glaube an ihre Unschuld noch zu schaffen machen sollte. Das aber passierte viel später.
Sie schob mich resolut in das Zimmer, das ich in schlechter Erinnerung hatte. Heute überkam mich eine tröstliche Gelassenheit. Ich sah, was mir die Umstände an jenem Tag zu betrachten versagt hatten. Alles in diesem Raum strahlte Ruhe aus, Harmonie, Wohlgefühl, Behaglichkeit. Auf der hellen Couch waren gelbe und rostrote Kissen dekorativ aufgestellt, Zipfelmützen und Kandiszuckerhüten gleich. Über dem einzigen Sessel hing ein rostrotes Plaid, dessen Fransen sich lustig kringelten.
Vorsichtig trat ich näher. Ich spürte, wie sie zögerte, das erste Wort zu sprechen, doch dann trat sie vor mich hin. Ihre feuchten Augen spiegelten jenen Glanz, der mich schon einmal so unerklärlich fasziniert hatte. Ihre bleichen Lippen zitterten und sie nestelte nervös an einer Kleiderkordel herum: »Matthi΄s, es tut mir so leid«, flüsterte sie. In diesem Moment lösten sich all meine Lebenssäfte aus meiner inferioren Substanz (ich muss dieses Wort benutzen, weil ich mir geschworen hatte, dieses Papier nur mit ehrlichen Worten zu füllen, und nun hoffe ich, dieses Wort versteht nicht jeder) und stürzten wie ein Wasserfall bis in den untersten Teil meiner Extremitäten. Ich stand wie angeklebt und konnte mich nicht rühren. Mit dem Wasserfall musste auch mein letztes bisschen Verstand den Bach herunter gespült worden sein. Meine Arme entwickelten grotesker Weise eine Schubkraft in entgegengesetzte Richtung. Ich umarmte Laila und drückte ihren Körper an mich. Wieder berührten meine Lippen ganz zufällig ihre heiße Stirn. Diesmal geschah nichts. Im Gegenteil. Wir verharrten stumm. Je länger wir so standen spürte ich, wie ihr Körper langsam entspannte. Bedächtig reckte sie ihr glühendes Gesicht meinem entgegen. Meine Lippen rutschten sanft hinunter auf ihre Wangen, mehr rührte sich nicht, obwohl meine Zunge geneigt war, den Ausbruch zu versuchen und sich zwischen ihre bleichen Lippen zu mogeln. Ich beherrschte mich. Der Pfirsich-Duft ihres Haares betörte mich. Ihre Haut schmeckte nach Mandel und ich hätte zu gerne gewusst, was ich in diesem Moment sagen könnte. Mir war, als floss Blei dem Wasserfall hinterher und staute sich in meiner Brust, jener Stelle, die lange hohl gewesen sein musste. Ich schmeckte Salz. Auch bei Laila begann etwas zu fließen. Ein winziges Tröpfchen suchte den Weg um den Widerstand meiner Lippen herum. Es war ein Reflex. Mein Körper schien davon betroffen. Es tat sich etwas, doch es passierte nichts, nur meine Zunge wanderte den Weg der Träne rückwärts, bis meine Lippen mit dem dichten Wimpernkranz kokettierten, der Lailas Blick so sinnlich und gleichermaßen traurig machte. Es kitzelte und wir lachten beide. Erst jetzt funktionierte meine Sauerstoffversorgung wieder reibungslos und auch Laila schien aus der Kaninchenstarre zu erwachen.
»Komm, ich zeig dir was«, sagte sie. Ihrer Stimme war eine gewisse Beklemmung anzumerken, jene Art Atemnot, wenn man erregt ist. Das Gesicht aber blieb ausdruckslos. Nichts ließ vermuten, welch heimlicher Bann uns verwoben hatte.
Während der ganzen Zeit hatte ich mir gewünscht, dieses Mädchen zu besitzen, das etwas in mir geweckt hatte, was ich in meiner ganzen Verkommenheit lange verleugnet hatte. Ich wusste nicht worauf ich mich einließ und ob Laila überhaupt für die Liebe geschaffen war, pardon, für das, was ich unter Liebe verstand. Immer wieder sagte ich jenen dämlichen Satz vor mir auf, der einen ganz anderen Ursprung hatte: Bezeichne Laila nicht als verrückt, aber vergiss nie, dass sie es ist.
Sie zog mich zu der hellen Couch, doch meine Erwartung traf nicht ein. Von der unteren Ablage des kleinen Tisches angelte sie einen Block hervor. Ihre gespannten Blicke huschten zwischen mir und den Seiten hin und her, die sie umblätterte. Eine glich der anderen. Ich sah Mäuse, nichts als Mäuse. Zwar betrachtete ich die Vollkommenheit der Skizzen, kam aber nicht hinter den Grund der Übung. Es waren süße Mäuse – immer waren es drei. Drei Mäuse auf einer Bank, die zu überschwemmen drohte.
»Wir Mäuse müssen zur Bank, dort sind wir sicher.« Drei andere Mäuse knabberten auf einer Bank am Käse.
»Auf dieser Bank liegen die Zinsen.«
Und noch andere lustige Motive. Staunend lobte ich ihre Zeichenkünste, verstand aber noch immer nichts.
»Wo hast du das her?«, fragte ich, ohne genau zu wissen, ob ich begeistert, verwundert oder misstrauisch sein sollte. Laila tippte an ihren Kopf und zuckte mit den Schultern.
»Ich hab es in derselben Nacht noch gemacht, damals … es tat mir so leid Matthi΄s. Entschuldige bitte.«
Wir schauten uns wortlos an und langsam füllten sich Lailas Augen mit funkelndem Glanz. Mir war, als würden sich Horizont und Erde begegnen und sich für immer vereinen. Nichts ist zufällig, dachte ich, nahm ihren Kopf in meine Hände und näherte mich gefährlich ihrem Mund. Sie wandte sich nicht ab. Ihre Lippen lösten sich unmerklich voneinander, es schien, als staune sie. Meine Küsse ließ sie geschehen, einmal, zweimal, bis sich ihre Lippen entspannten und ihr Mund sich begehrlich öffnete. Frei von allen ekstatischen Gebärden, hingerissen von der Poesie eines Augenblickes, erwiderte sie meinen Kuss. Ich indes wünschte, dieser Augenblick möge sich wiederholen. Heute. Morgen. Nächste Woche. Ihr Staunen blieb erstaunt, ihre Schönheit blieb schön. In diesem Moment verstand ich ihr Bild da draußen im Flur, doch von dieser Minute an war ich auch ein anderer Mensch. Laila El … sowieso … (ich wusste noch immer nicht, wie sie hieß) hatte Matti Braun, den gnadenlosen Lüstling, für eine unbestimmte Zeit besiegt. In ihrer Nähe existierte nur noch Matthi΄s der Ehrenhafte. Dieses Bild war der Maßstab all meiner Darstellungskünste – zumindest wenn ich in ihrer Nähe war.
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