Die Thematik des Kindsmords in der Literatur
Diese Aufsplitterung des menschlichen Lebens in einzelne Bereiche, die ursprünglich zusammen gehören, ruft Konflikte hervor, die sich katastrophal auswirken können, wie die beiden authentischen Kindesmordbeispiele zeigen. Diese Problematik durchzieht besonders auch die letzten Jahrhunderte der Menschheitsgeschichte und dauert bis ins 21. Jahrhundert und wird seit jeher in der Literatur dargestellt. Bleibt dieser Konflikt ungelöst, kommt es zu Verirrungen und dem Menschen bleibt es versagt, wirklich lieben zu können, er muss dann verzweifeln. Besonders die Frau wird dann durch mangelnde Selbstliebe, die aus der Zersplitterung ihres ursprünglichen Ganz-Seins als Frau entstanden ist, zum Opfer dieser Umstände.
Der Kindsmord ist bereits in der griechischen Mythologie thematisiert.
In der griechischen Sage stürzt sich die schöne Ino, von der eifersüchtigen Göttin Hera mit Wahnsinn geschlagen in Panik mit ihrem Sohn ins Wasser.
Die rachsüchtige Prokne, setzt ihrem Ehemann Tereus, der ihrer Schwester Philomele die Unschuld und die Zunge genommen hat, den eigenen Sohn zum Mahl vor.
Medea, eine Königstochter erdolcht ihre eigenen Söhne, um sich an ihrem Ehemann zu rächen. Euripides bearbeitete diesen Stoff und schuf die klassische Medea-Tragödie. Seit dem taucht das Motiv der Kindermörderin immer wieder in der Literatur auf: bei Johann Wolfgang Goethe, Leopold Wagner, Gottfried August Bürger, Friedrich Schiller, Hanns Henny Jahnn sowie bei Elfriede Jelinek und Michael Kumpfmüller usw.
Dabei änderten sich die Herkunft der Protagonistinnen und ihre Beweggründe bezüglich des Kindsmordes seit der frühen Neuzeit und dem 18. Jahrhundert. Sie stammen meist aus unteren Gesellschaftsschichten, und sie agieren aus Scham und Angst vor Ehrverlust und gesellschaftlicher Ächtung („Schande“) statt aus Rachegefühlen und Eifersucht. Sie sind also unschuldig Schuldige Märtyrer einer bigotten Moral.
Der Konflikt zwischen Mutterliebe, Angst, Scham und Verzweiflung bringt z. B. auch das „Gretchen“ in Goethes Faust dazu, ihren Sohn nach der Geburt zu töten. Die bekannte „Gretchentragödie“ basiert auf dem authentischen Fall der Susanna Margaretha Brandt, die 25jährig im Jahr 1771 auf Grund eines Prozesses mit dem Beil hingerichtet wurde, weil sie ihr neugeborenes Kind tötete. Sie war vom Lakai eines holländischen Kaufmanns verführt worden und aus Angst verbarg sie ihre Schwangerschaft. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Goethe als Freigeist, Idealist und Humanist maßgeblich an der Vollstreckung des Todesurteils einer Kindsmörderin beteiligt war, und zwar am Fall Johanna Catharina Höhn, die wegen Kindsmords 1783 hingerichtet wurde. Obwohl es zu Goethes Zeit bereits Bestrebungen gab, die Todesstrafe für Kindsmord abzuschaffen, entschied sich Goethe dafür. Das lässt seine Authentizität hinsichtlich seiner viel gerühmten Humanität in Frage stellen. (Vgl. Rüdiger Scholz „Das kurze Leben der Johanna Catharina Höhn“, Königshausen & Neumann, Würzburg 2004). Intellektuelle empfanden das Todesurteil als ungerechtfertigt
Immanuel Kant plädierte in seinem Werk „Metaphysik der Sitten“ 1797 (vgl. w.o.) dafür, dass Kindesmörderinnen nicht bestraft werden sollten.
Ein Gedicht von Friedrich Schiller (1759-1805), zeigt das Empfinden, die Not und Verzweiflung einer Kindsmörderin zu jener Zeit auf: (aus: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. u. a. Gerhard Kluge, Otto Dannund Norbert Oellers, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1992–2002).
Die Kindsmörderin
Horch – die Glocken weinen dumpf zusammen
Und der Zeiger hat vollbracht den Lauf,
Nun, so sei´s denn! – Nun, in Gottes Namen!
Grabgefährten brecht zum Richtplatz auf.
Nimm o Welt die letzten Abschiedsküsse,
Diese Tränen nimm o Welt noch hin.
Deine Gifte – o sie schmeckten süße! –
Wir sind quitt, du Herzvergifterin.
Fahret wohl ihr Freuden dieser Sonne,
Gegen schwarzen Moder umgetauscht!
Fahre wohl du Rosenzeit voll Wonne,
Die so oft das Mädchen lustberauscht;
Fahret wohl ihr goldgewebten Träume.
Paradieseskinder Phantasien! –
Weh! sie starben schon im Morgenkeime,
Ewig nimmer an das Licht zu blühn.
Schön geschmückt mit rosenroten Schleifen
Deckte mich der Unschuld Schwanenkleid,
In der blonden Locken loses Schweifen
Waren junge Rosen eingestreut:-
Wehe! – Die Geopferte der Hölle
Schmückt noch itzt das weißlichte Gewand,
Aber ach! – der Rosenschleifen Stelle
Nahm ein schwarzes Totenband.
Weinet um mich, die ihr nie gefallen,
Denen noch der Unschuld Lilien blühn,
Denen zu dem weichen Busenwallen
Heldenstärke die Natur verliehn!
Wehe! menschlich hat dies Herz empfunden! –
Und Empfindung soll mein Richtschwert sein!-
Weh! vom Arm des falschen Mannes umwunden
Schlief Luisens Tugend ein.
Ach vielleicht umflattert eine andre
Mein vergessen dieses Schlangenherz,
Überfließt, wenn ich zum Grabe wandre,
An dem Putztisch in verliebten Scherz?
Spielt vielleicht mit seines Mädchens Locke?
Schlingt den Kuß, den sie entgegenbringt?
Wenn verspritzt auf diesem Todesblocke
Hoch mein Blut vom Rumpfe springt.
Joseph! Joseph! Auf entfernte Meilen
Folge dir Luisens Totenchor,
Und des Glockenturmes dumpfes Heulen
Schlage schröcklichmahnend an dein Ohr –
Wenn von eines Mädchens weichem Munde
Dir der Liebe sanft Gelispel quillt,
Bohr es plötzlich eine Höllenwunde
In der Wollust Rosenbild!
Ha Verräter! Nicht Luisens Schmerzen?
Nicht des Weibes Schande, harter Mann?
Nicht das Knäblein unter meinem Herzen?
Nicht was Löw´ und Tiger milden kann?
Seine Segel fliegen stolz vom Lande,
Meine Augen zittern dunkel nach,
Um die Mädchen an der Seine Strande
Winselt er sein falsches Ach! –
Und das Kindlein – in der Mutter Schoße
Lag es da in süßer goldner Ruh,
In dem Reiz der jungen Morgenrose
Lachte mir der holde Kleine zu,
Tödlichlieblich sprang aus allen Zügen
Des geliebten Schelmen Konterfei;
Den beklommnen Mutterbusen wiegen
Liebe und – Verräterei.
Weib, wo ist mein Vater? Lallte
Seiner Unschuld stumme Donnersprach,
Weib, wo ist dein Gatte? Hallte
Jeder Winkel meines Herzens nach –
Weh, umsonst wirst Waise du ihn suchen,
Der vielleicht schon andre Kinder herzt,
Wirst der Stunde unsrer Wollust fluchen,
Wenn dich einst der Name Bastard schärzt.
Deine Mutter – o im Busen Hölle! –
Einsam sitzt sie in dem All der Welt,
Durstet ewig an der Freudenquelle,
Die dein Anblick fürchterlich vergällt,
Ach, in jedem Laut von dir erwachet
Toter Wonne Qualerinnerung,
Jeder deiner holden Blicke fachet
Die unsterbliche Verzweifelung.
Hölle, Hölle, wo ich dich vermisse,
Hölle, wo mein Auge dich erblickt,
Die von seinen Lippen mich entzückt,
Seine Eide donnern aus dem Grabe wieder,
Ewig, ewig würgt sein Meineid fort,
Ewig – hier umstrickte mich die Hyder –
Und vollendet war der Mord.-
Joseph! Joseph“ auf entfernte Meilen
Jage dir der grimme Schatten nach,
Mög mit kalten Armen die ereilen.
Donnre dich aus Wonnenträumen wach,
Im Geflimmer sanfter Sterne zucke
Dir des Kindes krasser Sterbeblick
Es begegne dir im blutgen Schmucke,
Geißle dich vom Paradies zurück.
Seht! Da lag es – lag im warmen Blute,
Das noch kurz im Mutterleibe sprang,
Hingemetzelt mit Erinnysmute,
Wie ein Veilchen unter Sechsenklang –
Читать дальше