Die alte Frau, sie ist zwar alt, aber ebenso naiv wie das junge Mädchen, und so ist dieses Märchen eine Antigeschichte, die zeigt, wie wir es möglichst nicht machen sollten. Vielmehr zeigt es uns, dass besonders Frauen lernen sollten, auf eine achtsame Weise mit sich selbst und der eigenen Sexualität umzugehen.
Die Sehnsucht und Neugierde, die das naive Mädchen in die Arme des Jünglings treibt, sind natürlich und diese dürfen und müssen geradezu auch ausgelebt werden in jungen Jahren, ganz gleich, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. In der Zeit der Pubertät z. B. ist es wichtig, ungestört Sexualität ausprobieren zu können. Deshalb ist eine gute Kindheit wichtig, in der der Mensch genügend Liebe, Zuwendung und Verständnis erfahren hat, damit er im heranwachsenden Alter so stabil ist, um nicht auf Spiele mit der „Liebe“ und auf unseriöse Praktiken hereinfallen zu müssen und diese von wahrhaftigen Liebesabenteuern unterscheiden zu können.
Wenn jedoch eine Spaltung zwischen einem geistig-geistlichen Prinzip und der sexuellen Ursprungskraft vorhanden ist, kann es in der Regel sehr problematisch für den Menschen werden, da er etwas Entscheidendes in sich abspaltet und kein Liebender, keine Liebende sein kann. Denn in dem Märchen handelt es sich nicht um verantwortungsvolle „Liebespartner“, sondern um einen windigen Liebhaber, der nach einer Nacht verschwindet und dem es egal ist, was mit seiner Partnerin passiert. Der männliche Seelenaspekt ist noch nicht ausgeprägt. Er kann es auch gar nicht sein, wenn der weibliche Anteil auch unreif ist. Seine Mutter ist auch nicht weise und das junge Mädchen naiv und erfahren. Hier ist verantwortliches Handeln nicht möglich.
Aus der Not heraus, das Kind zu versorgen, wenn auch nur in einer Pflegefamilie, da die gesellschaftlichen Gegebenheiten nicht so sind, dass die Frau das Kind allein groß ziehen kann, opfert sie sich als Prostituierte, um die Pflegefamilie bezahlen zu können, damit das Kind es einmal besser hat. Hier handelt es sich also um bezahlte „Liebesdiener“ ohne wirkliche Liebe. Mit der „Liebe“, mit der Sexualität wird ein Geschäft gemacht. Wir erfahren nichts über die Kindheiten der Märchenfiguren, im Prozess des Erwachsenwerdens scheinen diese auch keine Rolle zu spielen. Tatsächlich aber ist unser Verhalten im Erwachsenenalter durch unsere Kindheit geprägt; haben wir einen Zuwendungsmangel erfahren, ist der Umgang mit Liebe und Liebespartnern im Erwachsenenalter oft schwierig-.
Die Liebe ist hier noch gar nicht im Spiel, so weit ist das weibliche und männliche Potential hier noch gar nicht.
Da wir in der westlichen Welt des 21. Jahrhunderts in einer überwiegend säkularisierten Welt leben, gibt es zwar nicht mehr den Konflikt zwischen Kirche, zwischen religiösen Normen und der Sexualmoral aufgeklärter Menschen einer modernen Gesellschaft, aber ohne irgendeine Instanz, ohne irgendeinen inneren Bezug zu einer inneren Weisheit, die wir alle kennen, aber teilweise unterdrücken, gibt es keine wirklich befriedigende menschenwürdige Sexualität. Auch wenn der moderne Mensch des 21. Jahrhunderts größtenteils diesen inneren Konflikt zwischen religiösen Normen und seinem Sexualtrieb nicht mehr empfindet, existiert ein derartiger Konflikt dennoch auf einer unbewussten Ebene. Dieser Konflikt ist zwar anders zu erfassen, ist aber auf jenen zurückzuführen. Es ist der Konflikt zwischen Wunsch- und Pflichterfüllung.
Es handelt sich bei dem Wunsch um eine Art individuellen Urwunsch nach Glück, nach Befriedigung, nach Lust und Freude und bei der Pflicht handelt es sich auf der anderen Seite um eine Art kollektive Urpflicht, die darin besteht, das menschliche Dasein mit Sinn zu erfüllen, ein soziales Wesen zu sein, das sich seiner voll und ganz bewusst ist und um seine Herkunft als Vernunftwesen weiß und diesem dementsprechend gerecht wird.
Wird der Mensch sich dieses Urkonfliktes bewusst, so kann er erkennen, dass er diesen lösen kann und dass es sich letztlich um einen Scheinkonflikt handelt, da das individuelle Glücksstreben und die Pflicht ein sozialer Weltbürger zu sein zusammengehören. Denn es gibt auch eine Pflicht glücklich zu sein, wie Hermann Hesse es in einem seiner Gedichte ausdrückt, und es gibt den Wunsch des Menschen nach Zugehörigkeit, nach einem verantwortungsvollen Miteinander, nach einer Ursprungszugehörigkeit, wie es z. B. durch eine authentisch gelebte Religion ermöglicht wird, d. h. ein Eingebundensein in ein großes Ganzes. Damit ist eine Art „Wunsch-Pflicht“ oder ein „Pflicht-Wunsch“ gemeint, wobei eben beides nicht von einander getrennt ist, Wunsch und Pflicht sind eins. Das ist, denke ich, auch mit Immanuel Kants (1724-1804), „Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit“ (vgl. „Kritik der reinen Vernunft“, Band 1 und 2, „Kritik der praktischen Vernunft“, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 1976/74) gemeint.
Dieser Freiheit ist sich die junge Frau in dem Märchen noch nicht bewusst. Sie meint, sie müsse sich zwischen zwei extremen Lebensmöglichkeiten entscheiden: zwischen einem asketischen Leben, das Gott dienen solle und einem materiellen Leben, das ausschließlich weltlich orientiert ist. Sie entscheidet sich zunächst gegen das Klosterleben, das in dem Märchen für eine einseitig verstandene Spiritualität steht. Sie weiß, dass es noch mehr gibt, geben muss. Etwas, das sie vielleicht ankommen lässt. Die erste sexuelle Erfahrung beeindruckt sie, doch lässt sie diese gleichzeitig enttäuschen, da der männliche Part nicht reif ist und so erfährt sie die Aphrodite in sich, die lustvolle Sexualität und sogar Liebe erfahren möchte, gedemütigt. Genauso ergeht es ihr mit der Demeter in ihr, anstatt die Schwangerschaft genießen zu können, das Urweibliche, Lebenserhaltende muss sie aus Angst vor gesellschaftlicher Ächtung und Verzweiflung auf eine erfüllte Zeit der Schwangerschaft verzichten und ihr Neugeborenes weggeben. Das Neugeborene bedeutet auch ihre ureigenste Kraft der Kreativität, die sie einfach weggibt, weil sie keinen Weg sieht mit dieser zu leben, statt dessen lebt sie ihre nicht gelebte Liebe und Sexualität in Form von Prostitution aus, um das Kind ernähren zu können. Auf diese Weise kann die junge Frau jedoch nicht glücklich werden. Die Trennung der Lebensbereiche, die ursprünglich zusammengehören wie Liebe, Sexualität, Schwangersein, Kinderaufziehen, Partnerschaftlichkeit, Kreativität, hat zur Folge, dass das Kind der jungen Frau woanders aufwachsen muss, dass sie den Lebensunterhalt durch Prostitution verdienen muss, dass der männliche Seelenanteil als Vater und Beschützer nicht da ist, dass es keine weise Beraterin gibt . Dies alles stellt eine Pervertierung des Seelenlebens dar. Nichts ist so, wie es in Harmonie sein könnte, da es Lebensrollen statt das Leben selbst sind. Darin besteht das Dilemma dieser jungen Frau im Märchen. Da sie so nicht glücklich werden kann und das Klosterleben auch keine Möglichkeit darstellt wirklich Erfüllung zu finden, erscheint ihr die Mutter Oberin als „die weise Alte“ im Traum.
Diese vertraut ihr an, dass alles zusammengehört, die geistige und materielle Welt, die Welt der Sinnlichkeit und die Welt der Meditation und dass es darum geht die Angst, die Schuld und die Scham zu verlieren. Das ist das Urproblem des Menschen im Konflikt mit Natur und Kultur, die Angst vor dem wirklichen Leben und das ist vollständig und nicht geteilt in einzelne Bereiche. Jedoch bleibt das allerdings für die Protagonistin in dieser Entwicklungsstufe noch ohne Konsequenzen. Die junge Frau weiß jetzt zwar, dass beides zu leben möglich ist und zwar nicht zeitlich nacheinander, sondern sogar zur gleichen Zeit, aber sie schafft es (noch) nicht, sie ist noch nicht eingeweiht in die Mysterien des Lebens, der Mensch steht hier noch am Anfang seiner Entwicklung. Sowohl der weibliche als auch der männliche Seelenanteil sind noch nicht dahingehend entwickelt sich zu entscheiden und zu lieben, der männliche Seelenanteil ist in der Angst vor Verantwortung stehen geblieben, und der weibliche Seelenanteil ist mit Schuld- und Schamgefühlen belastet… Daher handelt es sich hier auch nicht um wirkliche Lebensmodelle, denn weder die einseitig asketische Pflichterfüllung als falsch verstandene Spiritualität noch das Leben außerhalb des Klosters beziehen den ganzen Menschen mit ein. So erfährt der Mensch auf dieser Bewusstseinsstufe, wenn überhaupt nur ein momentanes Stillen seiner Sehnsucht nach Ganzheit. Und wenn der Mensch nicht aufpasst, bleibt er sein Leben lang auf diesem Bewusstseinsstand und verpasst die Chancen auf ein menschenwürdiges Leben und verpasst dabei vor allem sich selbst.
Читать дальше