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Zu ihrer Überraschung fanden sie schnell einen freien Parkplatz, stellten den SUV ab und eilten im Laufschritt zu Erwins Imbissbude. Der Geruch von heißem Fett, den der Regen vergeblich aus der Luft zu waschen versuchte, wehte ihnen schon gefühlte zweihundert Meter vor dem Imbiss entgegen.
„Dieser Regen und diese herbstlichen Temperaturen gehen mir langsam aufs Gemüt. Der Sommer ist dieses Jahr ins Wasser gefallen. Wieder einmal“, schimpfte Heims.
Plock nickte nur und zog fröstelnd den Kopf ein. „Hey, Erwin“, rief er, als sie den Imbissstand erreichten.
„Hey, meine Lieblingsbullen. Schön, euch zu sehen. Was kann ich heute Gutes für euch tun?“
„Bullen? Das ist eindeutig Beamtenbeleidigung“, polterte Plock und zog drohend die Brauen zusammen. Dabei grinste er, was insgesamt komisch wirkte.
„Jetzt habt euch mal nicht so. Ihr wisst doch, wie ich’s meine“, antwortete Erwin und lachte dröhnend.
„Wissen wir, wissen wir“, beschwichtigte Heims. Sie war mit ihren Gedanken ganz woanders. „Dirk macht nur Spaß. Tut gut nach dem, was wir uns gerade antun mussten.“
Erwin nickte stumm. Er wusste aus Erfahrung, dass er auf die Frage nach dem Was keine Antwort erhielte. Dazu kannte er die beiden Cops schon zu lange.
Sie bestellten Pizza, Currywurst, Pommes und zwei Cola, zogen sich mit dem Essen und den Getränken unter den Sonnenschirm zurück und nahmen schweigend ihre Mahlzeit ein. Derweil prasselte der Regen heftig auf den schützenden Schirm.
Dieser Fall benötigte ihre Aufmerksamkeit, und zwar ihre ganze Aufmerksamkeit. Das wusste sie. Ihr großer Wunsch, im Job möge es eine Weile etwas ruhiger sein, erfüllte sich damit nicht. Sie würde den komplexen Fall Barnert momentan gut und gerne gegen klassische Schreibtischarbeit eintauschen. Denn sie brauchte Zeit und vor allem Energie, um wieder Ordnung in ihr chaotisches Privatleben zu bringen. Das blieb nun allerdings ein frommer Wunsch. Sie musste beides schaffen. Und sie wusste auch, dass ihr das irgendwie gelänge, wie auch immer.
Sie seufzte. Ihr Privatleben – eigentlich lief es recht gut. Sie war zufrieden, ja, sogar glücklich – wären da nicht ihr dämlicher Exmann Gerd und seine duselige Frau Birte.
Als Gerd Birte kennenlernte, war Claudia vollkommen klar gewesen, dass es über kurz oder lang gewaltigen Stress gäbe. Aber das? Damit hätte sie nicht gerechnet, nie im Leben.
Gestern hatte sie ein Schreiben von Gerds Anwalt erhalten, der sie in dem Brief wissen ließ, dass Gerd das alleinige Sorgerecht für Nina beantragte – ihre kleine, süße Nina. Dabei war ihre Tochter eh die meiste Zeit bei Gerd und Birte.
Das alleinige Sorgerecht – das war nicht fair. Und sie täte alles, damit er es nicht bekäme. Dafür setzte sie alle Hebel in Bewegung. Ganz klar!
Ihre Gedanken schweiften ab in die Vergangenheit, eine Vergangenheit, die ihr wie ein anderes Leben erschien und doch erst zwei Jahre zurücklag.
Bei der Trennung waren Gerd und Claudia der Ansicht gewesen, es sei für ihr gemeinsames Kind das Beste, bei Gerd zu leben, der als freiberuflicher Grafiker von Zuhause aus arbeitete, während Claudia als Kriminalbeamtin und Leiterin eines mehrköpfigen Teams mehr oder weniger Tag und Nacht für ihren anstrengenden Job zur Verfügung stand. Dann lernte er Birte kennen, die nun mit Nina unter einem Dach lebte und ihr damit mehr Mutter sein konnte als Claudia selbst.
Das tat weh!
Unter den gegebenen Umständen war es allerdings das Beste für Nina. Und das allein zählte.
Aber das alleinige Sorgerecht? Was dachte Gerd sich nur dabei? Und welchen Vorteil sah er für sich darin? Warum wollte er ihr das bisschen Verantwortung und die wenigen Stunden mit ihrer vierjährigen Tochter per Gerichtsbeschluss nehmen?
Sie biss kraftvoll in die Currywurst, als wäre es Gerds Kopf, sein Finger – egal. Als ihr bewusst wurde, welches Bild sie vor Augen hatte und mit welcher Kraft sie kaute, spülte sie das Fleisch mit einem Schluck Cola hinunter und stopfte sich anschließend gierig ein paar Pommes frites in den Mund. Sie musste mit Gerd und Birte reden – ohne Anwälte und so schnell wie möglich. Gleich nach Dienstschluss.
Als sie ins Präsidium zurückfuhren, regnete es noch stärker als zuvor.
Er war wieder allein. Und das war gut so, denn er war gern allein – zuhause, bei der Arbeit oder auf seinen ausgedehnten Spaziergängen im Wald am See. Er war gern allein. Das sagte er sich immer und immer wieder und wusste gleichzeitig, dass das eine Lüge war.
Er lag bewegungslos auf seinem harten Bett und starrte an die Decke, von der die graue Farbe abbröselte. Er lauschte auf seinen Atem, den die schmutzigweißen Wände wie trockene Schwämme absorbierten.
Im Laufe endloser Jahre und Jahrzehnte, in denen sie immer wieder neue Häftlinge beherbergten, hatten sie so viele Atemzüge und Seufzer inhaliert, dass sie davon abhängig geworden waren. Nun zeigten sich die Nebenwirkungen dieser Sucht. Die Farbe gewann an Schwere, warf Blasen und platzte ab.
Mama – er hatte sie wirklich geliebt. Als kleiner Junge hatte er sich ihre Anerkennung und Aufmerksamkeit gewünscht. Wie jedes Kind. Allerdings war es ihm niemals gelungen, ihr etwas recht zu machen. Die ersehnte Anerkennung war ihm versagt geblieben. Aufmerksamkeit hatte sie ihm zur Genüge geschenkt. Negative Aufmerksamkeit. Ständig hatte sie mit ihm geschimpft und laut getobt. Sie hatte ihn angeschrien, sich die langen Locken gerauft und ihn anschließend zur Bestrafung in Onkel Rolfs Zimmer geschickt.
Wenn er sich an die endlosen Stunden in Onkel Rolfs Zimmer erinnerte, an das, was dieser Mann dem kleinen Jungen, der er damals gewesen war, angetan hatte, wurde ihm augenblicklich schlecht. Eine unerträgliche Übelkeit keimte dann klein und dunkel in seinem Magen auf und breitete sich sekundenschnell im gesamten Bauchraum aus. Damit nicht genug kletterte sie bis unter sein Herz und machte, dass er sich übergeben musste. Deshalb versuchte er jede Erinnerung an Onkel Rolf zu verdrängen. Aber das klappte einfach nicht, jeder Versuch misslang.
Inzwischen wusste er, dass er für Mama nicht wichtig gewesen war. Auch wenn er sich wie alle Kinder gewünscht hatte, etwas ganz Besonderes für seine Mama zu sein. Er war für niemanden auf der Welt wichtig gewesen oder etwas ganz Besonderes. Er war ein kleiner Junge gewesen, der besser nie geboren worden wäre.
Manchmal versuchte er, sich selbst davon zu überzeugen, dass Mama nicht anders hatte handeln können, als sie es eben getan hatte. Dass sie nicht in der Lage gewesen war, mit einem kleinen Kind fertig zu werden. Denn sie hatte ja nicht mal ihr eigenes Leben im Griff gehabt. Aber wenn er so dachte, fielen ihm auch all die anderen Dinge ein, die Mamas ihren Kindern nicht antaten und die niemand einem Kind antun durfte. Die Bestrafungen durch Onkel Rolf.
Als er in die Schule kam und andere Kinder von ihren Papas erzählten, dachte er an die wenigen Märchen, die Mama ihm früher von Zeit zu Zeit vorgelesen hatte und in der neben einer Mama und Geschwistern auch ein Papa vorgekommen war. Er fragte sich, wer und wo sein Vater war, und suchte in den Wohnzimmerschränken und in Mamas Schlafzimmer heimlich nach versteckten Fotos. Er fand nichts. Also fragte er Mama und schließlich sogar Onkel Rolf, wer und wo sein Papa war. Er bekam darauf nie eine Antwort.
Ohne Mutterliebe, vaterlos in den wichtigsten Jahren seiner Entwicklung, mit einem Bestrafer, den er Onkel nannte und der seine einzige männliche Bezugsperson war. Die einzige männliche Bezugsperson, von der er hätte lernen können. Doch was hatte er von Onkel Rolf lernen wollen ? Nichts! So wie Onkel Rolf wollte er niemals sein.
Mamas Bruder hatte ihn bis zu seinem zwölften Geburtstag bestraft. Nach dem Stimmbruch war es ganz plötzlich vorbei gewesen. Er fragte nicht nach dem Warum. Es war einfach gut, dass es aufhörte. Das reichte. Doch die Erinnerungen blieben. Sie waren klar und deutlich, als wäre alles erst gestern passiert. Und es gab keine Chance, dass sie jemals verblassten. Sie waren unauslöschlich in sein Gehirn gebrannt, mit scharfen, schmerzhaften Konturen in seine Seele tätowiert. Niemals könnte er vergessen – nicht den körperlichen Schmerz, nicht die tiefe Demütigung, die er als ausgeliefertes, unschuldiges Kind hatte ertragen müssen.
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