Das heute waren allerdings keine normalen Umstände.
Der Autoverkehr und die ohne nach links und rechts zu blicken auf die Straße eilenden Fußgänger nervten sie, trieben ihren Herzschlag in die Höhe und ließen sie mehr als einmal laut fluchend mit der geballten Faust aufs Lenkrad schlagen. Die Flüche, die sie bei heruntergelassener Scheibe ausstieß, quittierten nicht wenige Leute mit verständnislosem Kopfschütteln. Sonne und Wärme nach tagelangem Dauerregen – wer hatte da schon schlechte Laune?
Endlich erreichte sie die Straße, in der Gerd und Birte mit Nina lebten. Sie lag in einer dieser aus dem Boden gestampften Neubausiedlungen mit spießigen Reihenhäuschen, die sich bis auf den Außenanstrich ähnelten wie ein Ei dem anderen – mit ihren penibel gepflegten, mit bis auf Kniehöhe akkurat beschnittenen Buchsbaumhecken umsäumten Vorgärten und den kaum mehr als handtuchgroßen Rasenstücken hinter den Häusern, die sich unbequem an überdachte Terrassen quetschten. Die kleinen, fast miteinander verschmolzenen Häuser wirkten wie Garagen für die davor abgestellten, immer breiter und protziger gebauten Fahrzeuge.
Sie parkte ihren Wagen vor Gerds und Birtes Haus, das sie nur aufgrund seines zitronengelben Anstrichs erkannte, stellte den Motor ab und sammelte sich.
Sie war Ninas Mutter, und so sollte es bleiben. Es kam nicht in Frage, dass Gerd das alleinige Sorgerecht erhielt, überhaupt nicht.
Claudia stieg aus dem SUV, knallte die Tür zu und bemühte sich um eine aufrechte, selbstsichere Haltung, obwohl ihr eher danach war, den Kopf wie eine verängstigte Schildkröte tief zwischen die Schultern zu ziehen. Mit großen Schritten eilte sie auf die Eingangstür zu, die Gerd in dem Moment aufriss, als sie gerade den Klingelknopf drücken wollte.
„Hallo, komm rein“, sagte er steif und ohne auch nur den Anflug eines Lächelns, verzichtete wie immer darauf, ihr die Hand zu geben und ließ ihr den Vortritt.
Wie geschickt, dachte Claudia, jetzt muss ich auf ihn warten, weil ich nicht weiß, ob wir in der Küche oder im Wohnzimmer miteinander reden.
Gerd schloss betont langsam die Haustür und seufzte genervt. Dann ging er, ohne sie anzusehen, an ihr vorbei und nahm Kurs auf das Wohnzimmer.
Sie spürte, dass er sich überlegen fühlte. Sein gleichzeitig zufriedener und gelangweilter Gesichtsausdruck spiegelte wider, dass sie mit ihrer Annahme richtig gelegen hatte. Wie gut sie ihn doch immer noch kannte. Er hatte sich nicht verändert, kein bisschen.
Claudia folgte ihm, das Rückgrat so krampfhaft aufgerichtet, dass es schmerzte.
Sie roch den intensiven Duft von Putz- und Desinfektionsmitteln, in dem auch ein leichter Hauch Teppichreiniger auszumachen war. Am liebsten hätte Claudia ihre Tochter aus dieser sterilen Umgebung sofort rausgeholt. So etwas förderte Allergien.
Birte lümmelte mit angezogenen Beinen auf der Couch und warf die Zeitschrift, in der sie gelesen hatte, auf den Tisch. Sie hielt es nicht für nötig, zur Begrüßung aufzustehen. „Ach, guten Abend, Claudia“, sagte sie nur, setzte ein falsches Lächeln auf und wies auf einen Sessel.
Steif nahm Claudia Platz. „Gerd, ich bin absolut dagegen, dass du das alleinige Sorgerecht für Nina beantragen willst“, kam sie direkt zum Thema.
„Aber Du weißt doch, das ist das Beste für unser Kind. Sie braucht Orientierung, Geborgenheit und einen gleichmäßigen Alltag“, antwortete Gerd. Sein Ton signalisierte ihr, dass er die Diskussion für absolut überflüssig hielt. „Und das alles kannst du ihr nicht bieten.“
„Nina hat einen geregelten Alltag“, widersprach Claudia vehement. Bleib ruhig, mahnte sie sich stumm. „Sie lebt bei dir. Und ich sehe sie an meinen freien Tagen. Wichtige Entscheidungen für Nina treffen wir gemeinsam. So haben wir es bei unserer Scheidung vereinbart. Und so ist es richtig.“
„Das sieht Gerd jetzt aber anders“, warf Birte mit träger Miene ein und lächelte wieder ihr süßes, falsches Lächeln. Claudia verglich sie unwillkürlich mit einem Frettchen. „Das Besuchsrecht will dir mein Mann ja gar nicht nehmen. Aber manche Entscheidungen müssen schnell getroffen werden. Und dein Job … na ja.“ Sie wedelte abfällig mit der Hand in der Luft herum. „Dein Job ist mit einem Kind einfach nicht zu vereinbaren“, fügte sie hinzu.
Claudias Herz begann zu rasen. Was gab dieser Frau das Recht sich einzumischen? Weil sie jeden Tag mit ihrer Tochter zusammen war? Claudia hätte gern mit ihr getauscht. Sie wäre gern laut geworden, wollte Birte ein paar Schimpfwörter an den Kopf werfen. Aber dann hätte sie verloren. Also zwang sie sich, ruhig zu bleiben, konzentrierte sich auf einen ruhigen Atem und zählte gedanklich bis zehn. „Nina ist meine Tochter. Und ein Kind braucht seine Mutter. Nina braucht mich.“
„Birte nimmt die Mutterrolle für Nina seit anderthalb Jahren wahr. Und das, wie du weißt, sehr gewissenhaft. In dieser Zeit hat sie für Nina mehr getan als du in ihren gesamten vier Lebensjahren. Nina hat sich so sehr an Birte gewöhnt, dass sie sogar Mami zu ihr sagt“, erklärte Gerd herablassend.
Jedes einzelne Wort traf sie wie ein Messerstich.
Gerd verstand es, ihre Liebe zu Nina als scharfe Waffe einzusetzen, ihre Liebe für seine Zwecke so zu benutzen, dass er sie damit verletzte. Claudia wusste, dass er sich an ihrem Schmerz weidete. Obwohl seine Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst waren, war das schadenfrohe Leuchten in seinen Augen nicht zu übersehen. Sie kannte es so lange wie Gerd selbst.
„Ich bin froh, dass Nina sich mit dir versteht“, sagte sie an Birte gewandt, auch wenn das nur zur Hälfte stimmte, wie Claudia sich eingestand. „Und ich bin dir wirklich sehr dankbar dafür, dass du dich so um sie kümmerst, wie du das tust. Nur ist es nun mal eine unumstößliche Tatsache, dass ich ihre Mutter bin und bleibe. Sie hat ein Recht darauf, mich zu sehen, wann immer es sich einrichten lässt. Sie hat ein Recht darauf, dass ich an ihrem Leben teilhabe. Und sie hat ein Recht darauf, an meinem Leben teilzunehmen. Am Leben ihrer leiblichen Mutter. Außerdem steht es mir als ihre leibliche Mutter zu, wichtige Entscheidungen, die sie betreffen, mitzubestimmen.“
„Das sehen wir aber vollkommen anders“, stellte Gerd bestimmt fest. „Es ist völlig gleichgültig, was du sagst oder tust – wir werden das vor Gericht durchsetzen.“
„Kannst du das als Frau wirklich verantworten – einer Mutter ihr Kind wegzunehmen?“ fragte Claudia.
„Es nutzt niemandem, jetzt theatralisch zu werden“, erwiderte Birte mit ihrem falschen Lächeln.
„Offensichtlich ist es euch egal, welche Argumente ich vorbringe. Ihr habt vor, das durchzuziehen?“
„Wir ziehen das durch – ganz genau“, sagte jetzt Ninas Vater und dehnte dabei jedes einzelne Wort. Sein Gesichtsausdruck war hart und unerbittlich.
Aber Claudia ließ sich weder von Birtes blödem Grinsen noch von Gerds Pokerface einschüchtern. „Das ist schlecht für das Kind, mein Kind. Ich werde alles aufbieten, was mir möglich ist, um das zu verhindern!“ Claudias Stimme klang fester, als sie gehofft hatte. „Ich habe nach unserer Trennung zugestimmt, dass es das Beste für Nina ist, bei dir zu wohnen. Du kannst deine Arbeit flexibel einteilen, und es ist für ein Kind optimal, immer einen Ansprechpartner zu haben. Nur werde ich es nicht zulassen, dass du Nina die leibliche Mutter nimmst. Darauf kannst du Gift nehmen.“
Birte grinste frech, während Gerd schmalllippig lächelte. Claudias Puls dröhnte in ihren Ohren und sie zählte erneut stumm bis zehn.
„Gut, wenn du es so willst. Dann geht es eben nur auf die harte Tour“, konstatierte Gerd und stand auf. Das Zeichen für Claudia, dass ihre Anwesenheit keine Sekunde länger in diesem Haus erwünscht und das Gespräch beendet war.
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