Jens K. Holm
Die Dame lag in einer Kiste. Als der Mann sie zur Hälfte durchgesägt hatte, zog er die Säge heraus und sagte ein paar Worte zum Publikum.
»Wenn er sich nur beeilen wollte und weitersägen würde«, flüsterte Erik, »ich bin gespannt, wie die Sache endet.«
Es war Strandfest. Erik, Brille, Katja und ich waren in dem Zelt mit der zersägten Dame. Es war glühend hieß hier. Wir saßen in der allerersten Reihe auf einer harten Holzbank. Man hörte von draußen den Lärm des Festplatzes, die Musik, das Geschrei, die vielen Stimmen, die Ausrufer vor den verschiedenen Zelten, den Mann, der heiße Würstchen anbot, die lachenden jungen Mädchen, das Quietschen der Schiffschaukel und das Gelächter, das von den Autoskootern herüberschallte.
Der Mann oben auf der Bühne schob seine Säge wieder in die Kiste und sägte weiter. Wir saßen mit angehaltenem Atem da und sahen zu, wie er ruhig und stetig sägte, wie ein Berufszimmermann, ohne sich zu übereilen. Der Kopf der Dame guckte an einem Ende aus der Kiste, die Füße am anderen. Sie lag da und lächelte. Das war uns unbegreiflich. Ich stellte es mir ziemlich schwierig vor, in dieser Situation zu lächeln. Erik flüsterte:
»Was der kann, möchte ich auch können. Ich werde mal versuchen, es ihm nachzumachen. Mein Vater hat zu Hause eine große Säge. Wenn ihr nichts dagegen habt, werde ich mich in den nächsten Wochen mal an euch dreien versuchen.«
Wir mußten lachen. Der Mann mit der Säge sah uns vorwurfsvoll an.
Als er die Dame mittendurch gesägt hatte, sie aber immer noch froh und zufrieden aussah, legte er ein angeschmuddeltes Tuch über den Deckel und öffnete die durchgesägte Kiste. Die Dame sprang heraus, frisch wie ein Fisch im Wasser. Man konnte gar nicht erkennen, daß sie durchgesägt worden war. Sie lachte uns alle an. Sie hatte häßliche Zähne und war überhaupt nicht besonders schön.
Der Mann erklärte, daß die Vorstellung zu Ende sei. Er forderte uns auf zu klatschen, damit die Leute, die draußen warteten, hören sollten, wie gut wir uns amüsiert hatten. Wir klatschten, so laut wir konnten, obwohl es im Zelt so warm war, daß wir am liebsten nicht einmal mit den Ohren gewakkelt hätten. Wir klatschten aber trotzdem. Dann standen wir auf und verließen das Zelt zusammen mit den vielleicht fünfzig anderen Zuschauern.
»Wohin gehen wir jetzt?«
»Ich würde gern Eis essen«, sagte Katja.
Wir schlenderten alle vier zu der nächsten Eisbude.
Es war Sonntagnachmittag gegen drei Uhr. Der Festplatz war um zwei Uhr geöffnet worden. Das Strandfest ist das Schönste, was ich kenne. Ich mag die Stimmung so gern, die verschiedenen Geräusche und Gerüche, ich mag dies Menschengewühl und habe eine Schwäche für all die Zelte, die Akrobaten, die Spielautomaten, für Eis und Würstchen – einfach für alles.
Wir bummelten umher, und bei jedem Schritt wirbelte der Staub in kleinen Wolken vor uns auf. Wir kamen an die Eisbude und kauften uns Eis, die größten Portionen, die wir bekommen konnten. Dann gingen wir weiter, vorbei am Tanzpodium, wo der Tanz in vollem Gange war. Wir sahen einen Augenblick den Tanzenden zu. Dann schlenderten wir weiter und blieben schließlich vor einem der Zelte stehen, vor dem ein Ausrufer Sahun Alid, den weißen Fakir, anpries, ferner die Schlangendame (die allerdings weniger einer Schlange als vielen anderen Dingen ähnelte), dann Sir Hamilton, den größten Zauberkünstler der Welt, sowie den Clown Limpo und den stärksten Mann der Welt, Iwanowitsch, den König der Ausbrecher, der aus der weiten russischen Steppe kam. Wir hatten schon Lust, uns die Vorstellung anzusehen, aber noch nicht jetzt. Wir hatten ja noch so viel Zeit. Mit Zeit waren wir nicht knapp, eher mit unserem Taschengeld. Wir mußten sehen, es so lange wie möglich zu strecken.
Wenn man auf dem Strandfest ist, braucht man gar nicht die ganze Zeit Geld. Man kann auch einfach nur ziellos umherschlendern und sich alles ansehen, was da geschieht. Denn da geschieht ständig etwas.
Wir waren nicht die einzigen, die umherbummelten und sich alles ansahen. Es war eine ganze Reihe uniformierter Beamter da, die wahrscheinlich von Frederiksvaerk herübergekommen waren. Die gingen auch umher, versuchten den ganzen Platz im Auge zu behalten und paßten dabei auf, daß nichts geschah, was nicht geschehen durfte.
Larsen, der Polizeibeamte unseres Ortes, war auch da. Er war in Zivil und bummelte mit seiner Schwester zusammen herum, der arme Mann. Wir grüßten die beiden. Larsen grüßte auch freundlich zurück, seine Schwester jedoch nicht.
Nachdem wir einmal über den ganzen Festplatz gegangen waren, stellten wir uns vor dem Tanzpodium auf und sahen zu. Dabei kam mir der Gedanke, daß es eigentlich Spaß machen müßte, einmal mit Katja zu tanzen. Allerdings nicht jetzt, wo so viele Menschen hier herumstanden und zuguckten, aber vielleicht heute abend. Ich tanze nämlich nicht besonders gut. Heute abend würden natürlich genauso viele Menschen da sein und zugucken, wahrscheinlich sogar mehr, aber dann würden auch mehr Leute auf der Tanzfläche sein. Jetzt war da höchstens ein halbes Dutzend. Wenn das Ganze erst richtig in Gang gekommen war und vielleicht fünfzig Menschen da oben tanzten, dann würde bestimmt niemand so genau aufpassen, ob ich zwei- oder dreimal einen verkehrten Schritt machte. Außer Katja natürlich, aber sie würde dann schon sagen, daß das nichts ausmache.
»Hallo, Katja!«
Ich drehte mich um. Das war John. Ich kannte ihn nicht sehr gut, denn er wohnte noch nicht lange im Dorf. Er ist größer als ich und wirklich schick angezogen. Seine Eltern scheinen wohlhabend zu sein. Er hat schwarzes Haar, und die meisten Leute sagen, daß es ein Vergnügen sei, ihn anzusehen. Ich finde das nicht. Ich mag ihn nämlich nicht leiden.
Er schloß sich uns an und begrüßte uns alle vier. Er strahlte über das ganze Gesicht.
»Darf ich um den nächsten Tanz bitten, Katja?« fragte er.
Katja nickte erfreut. Der Tanz ging gerade zu Ende. Katja winkte uns zu und ging dann mit John zum Eingang des Tanzpodiums. Als die Kapelle wieder anfing zu spielen, waren Katja und John als erste auf der Tanzfläche. Ich stellte fest, daß John gut tanzen konnte. Er war sehr selbstsicher. Es schien ihm nicht das geringste auszumachen, daß so viele Menschen da herumstanden und gafften.
»Von mir aus können wir weitergehen«, erklärte ich.
»Warum sollen wir hier herumstehen und zusehen, wie die Leute tanzen? Kommt!«
Brille zögerte.
»Ja, aber was wird mit Katja?«
»Sie wird uns schon finden«, sagte ich.
Erik rief zu ihr hinauf:
»Wir bummeln ein bißchen herum.«
Sie verstand ihn trotz der Musik und nickte zu uns herunter.
Dann gingen wir.
Ein Polizist lief an uns vorbei. Er bahnte sich mit den Ellenbogen einen Weg durch die Menge und schien es sehr eilig zu haben.
»Da scheint etwas los zu sein«, meinte Erik. »Kommt!«
Wir drängelten uns auf dem gleichen Weg voran wie der Beamte und sahen plötzlich einen riesigen Auflauf vor einem der Zelte am äußeren Rand des Platzes, nicht weit von dem Zelt entfernt, in dem wir kurz vorher noch gesessen und geschwitzt hatten.
Es handelte sich um einen Schießstand. Auf einem großen Schild stand darüber: Drei Schuß eine Krone. Zunächst konnten wir gar nichts sehen, weil so viele Menschen davor standen. Wir versuchten, uns zwischen ihnen hindurchzuzwängen, aber das mußten wir bald aufgeben. Doch dann kamen wir auf den Gedanken, die Ankerwinde hinaufzuklettern, die die Fischer benutzen, um ihre Boote an Land zu ziehen, wenn sie überholt werden müssen, und jetzt konnten wir erkennen, was da vorging, jetzt konnten wir nämlich über die Köpfe der Menschen in den Stand hineinsehen.
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