Christoph Müller OSB
NEULAND
UNTER DEN
SANDALEN
Ein Benediktiner auf dem Jakobsweg
Wir danken für die Abdruckgenehmigung des Gedichtes „Im Nebel“ aus Hermann Hesse, Sämtliche Werke, Band 10 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2002.
Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“
4. Auflage 2017
© 2010 Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck
Lektorat: Mag. Klaus Gasperi, A-6835 Muntlix
Umschlaggestaltung: stadthaus 38, Innsbruck
unter Verwendung eines Bildes von Rainer Juriatti
Alle Bilder © Christoph Müller außer S. 55 und S. 180 Cristina Doria-Drouve
Layout und digitale Gestaltung: Studio HM, Hall in Tirol
Lithografie: digiservice, Innsbruck
Druck und Bindung: FINIDR, Tschechien
ISBN 978-3-7022-3055-5 (gedrucktes Buch)
ISBN 978-3-7022-3276-4 (E-Book)
E-Mail: buchverlag@tyrolia.at
www.tyrolia-verlag.at
Wie ich zum Jakobspilger wurde
„Go West!“
Erste Siesta in der Blumenkiste
Unter Ratten und Räubern
Ein rettender Engel
Nie wieder!
Fluchpsalmen und kulinarische Köstlichkeiten
Nun, auf nach Spanien!
Ein jämmerlicher Kaminfeger
Wie ein Kamel nach einer langen Wüstenwanderung
In der Arena
Verführungen und nächtliche Geschosse
„Sed“ – Durst
Die Matrone
Als „Stürmi“ unter Müden und Lahmen
Ein charismatisches „Morgenmahl“ inmitten der Eintönigkeit
Das heimwehkranke Pferd
Der schweigsame Gefährte
In der sibirischen Steppe
Die Unendlichkeit des Himmels
Ein Festschmaus zu Ehren des hl. Christophorus
Das Ende vor Augen
Die schweigsame Eskorte
Voller Unruhe
Keltische Klänge – zwischen Weihrauchduft und Widderhorn
Eine fachkundige Diagnose
„Wenn das Herz dich drängt …“
Unendlich „befreit“
Neues Ungemach
„Dann bete für Elena!“
Die letzten Schritte
Hier endet der Weg!
Dem Glücklichen schlägt keine Stunde
Ein Pilger baut keine Hütten!
Geschenkte Zeit – die Rückkehr
WIE ICH ZUM JAKOBSPILGER WURDE
Nein, wallfahren, das war nicht meine Sache. Dass ich damals den Schritt ins Internat des berühmten Wallfahrtsortes Einsiedeln tat, hatte allein mit meiner Faszination für afrikanische Wildtiere zu tun. Ich wollte Missionar werden und unter Löwen und Giraffen leben. Das ging aber nicht ohne Abitur. So kam ich ans Gymnasium des Klosters Einsiedeln.
Der Alltag im Internat gefiel mir über Erwarten gut. Die Lehrer in ihren schwarzen Kutten und das barocke Ambiente der Klosteranlage beeindruckten mich so sehr, dass die Bilder von Elefanten und Hyänen allmählich verblassten. Schließlich entschied ich mich, in dieses Kloster einzutreten und die Afrikamission anderen zu überlassen.
Den Wallfahrtsbetrieb nahm ich dabei in Kauf. Er störte mich nicht, war aber auch nicht meine Welt. Selber eine Wallfahrt zu unternehmen, das wäre mir nie in den Sinn gekommen. Von zuhause her war mir so etwas völlig unbekannt.
Gewiss, ich wusste, dass es den Jakobsweg gab und dass er im fernen Spanien endete. Aber nie hatte ich auch nur das leiseste Bedürfnis verspürt, ihn selber zu gehen. Mir genügte mein Tagwerk im Kloster. Aufbrechen, gar nach Santiago? Das überließ ich jenen, die Gefallen daran fanden.
In Einsiedeln wohnte ein Ehepaar, dem der Jakobsweg viel bedeutete, denn die beiden hatten sich dort kennengelernt. Sie waren eng mit unserem Kloster verbunden. Eines Tages gingen sie zum frisch gewählten Abt Martin. Es wäre gut, meinten sie, wenn er als junger Abt auch Anregungen aus anderen Klöstern bekäme. Sie schlugen vor, dass einer der Mönche mit ihnen eine Reise zu französischen Abteien unternehmen sollte, um ihm nachher darüber zu berichten.
Abt Martin fand die Idee gut, und ich war der Auserwählte. So kam es, dass ich mit dem Ehepaar verschiedene Abteien im Burgund besuchte. Nach meiner Rückkehr berichtete ich dem Abt ausführlich. Als ich mich verabschiedete, vertraute ich ihm noch etwas an, das mich seit dieser Reise nicht mehr losließ:
In Vézelay tauchte plötzlich der Wunsch auf, den Jakobsweg zu gehen .
Fünf Kilometer vor Vézelay, einer berühmten Station am Jakobsweg, hatten wir unser Auto geparkt. Meine Begleiter drückten mir einen Pilgerstab in die Hand. Gerne ging ich auf ihren Vorschlag ein, die kurze Strecke bis zur Kathedrale zu Fuß zurückzulegen. Doch dieses Wegstück mit seinem langsamen Aufstieg zur Kirche, der Anblick der alten Steinfliesen, das Betreten der romanischen Basilika und das stille Verweilen im heiligen Raum, der Gedanke an Tausende Pilger, die im Laufe der Jahrhunderte hier gebetet hatten – das alles berührte mich zutiefst. Spontan stieg in mir der Wunsch auf, selber den Jakobsweg, den sogenannten Camino, unter die Füße zu nehmen.
Nach dem jahrelangen „Bete und arbeite!“, wie ich es als Benediktiner gewohnt war, wollte ich Neuland unter meinen Füßen betreten. Zu meiner großen Überraschung sagte der Abt „ja“.
Kaum einer von uns Einsiedler Mönchen hatte den Camino je gemacht. Gewiss, mein Tischnachbar, der betagte Bruder Alois, rühmte sich immer wieder, dass er den Jakobsweg sehr wohl kenne. Wenn ich nachfragte, wie weit er ihn denn zu Fuß gegangen sei, antwortete er halb prahlend, halb schmunzelnd: „Also, ich stieg jeweils in Santiago aus dem Car und überquerte den Vorplatz bis zur Kathedrale, das waren ganz sicher hundert Meter!“
Ich hatte mir für den Pilgerweg Folgendes ausgedacht: In Einsiedeln starten und per Fahrrad die Schweiz und Frankreich durchqueren. Erst auf spanischem Boden würde ich den Lenker mit dem Pilgerstab vertauschen. Dann hieß es 700 Kilometer zu Fuß bis nach Santiago und wieder 700 Kilometer zurück, um schließlich per Rad nach Einsiedeln zurückzufahren. Der Abt stellte mir dafür 50 Tage zur Verfügung.
Was das Übernachten betraf, so wollte ich trotz des zusätzlichen Gewichts auf keinen Fall auf ein Zelt verzichten. Ich hatte einen Film gesehen, der mir den Schlaf raubte. Auf den Betten sitzend, stachen Pilger einander die Blasen auf, überall hing nasse Wäsche herum, und es wurde geschnarcht, dass die Balken krachten. Wie sollte ich, der ich über Jahrzehnte hinweg meine Mönchszelle allein bewohnte, da überhaupt Schlaf finden?
Rasch ging es ans Packen. Die Frage war jedoch nicht „Was nehme ich mit?“, sondern vielmehr „Was lasse ich alles zuhause?“ Zelt, Schlafsack und Luftmatratze alleine wogen schon drei Kilo. Keinesfalls würde ich mehr als zwölf Kilo mit mir herumtragen! Unverzichtbar erschienen mir aber verschiedene Kleider (auch warme), ein Regenponcho (der gleichzeitig als Zeltunterlage diente), Toilettenartikel, ein Reparaturset für das Rad, Helm, Pumpe, Esswaren, Trinkflasche, Messer, Taschenlampe und Fotoapparat sowie eine kleine Apotheke. Am Abend des 4. Juli 2003 stand das Fahrrad, mit einem unförmigen Rucksack beladen, im Klosterkeller bereit und wartete auf den Morgen.
Um 5.30 Uhr begab ich mich in die Klosterkirche. Vor dem großen Aufbruch wollte ich nochmals mit den Mitbrüdern ins Gotteslob einstimmen. Gleich nach dem kräftigen Frühstück holte ich das Rad hervor und schob es bis zum schweren Klostergitter, das sich ächzend öffnete. Ich hielt einen kurzen Moment inne. Dann fiel das Tor ins Schloss. Und los ging’s.
Читать дальше