Christoph Müller - Neuland unter den Sandalen

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Ora et Labora – das sind zwei wichtige Bestandteile der benediktinischen Ordensfrömmigkeit. Bei Pater Christoph aus dem Kloster Einsiedeln in der Schweiz kommt eine dritte hinzu: das Pilgern. Obwohl er das rege Wallfahrts-Treiben täglich direkt vor seiner Haustüre miterleben konnte, war es ihm nie in den Sinn gekommen, selbst auf Pilgerreise zu gehen, bis ihn sein Weg nach Vézelay, der bekannten französischen Station am Jakobsweg, führte. Von diesem Tag an stand sein Vorhaben fest: per Fahrrad über Genf-Lyon-Le Puy quer durch das französische Zentralmassiv und über die Pyrenäen bis nach Puente la Reina zu fahren und von dort auf Schusters Rappen bis Santiago de Compostela zu wandern.
Der bisher an die Gemeinschaft des Klosters gewöhnte Ordensmann erfährt dabei die Freuden und Leiden eines der Natur ausgesetzten Pilgerlebens. Gute Beobachtungsgabe für die kleinen Dinge am Wegesrand gepaart mit einer gehörigen Portion Humor und seine beneditkinische Spiritualität, die unaufdringlich immer wieder zwischen den Zeilen durchscheint, machen seinen Pilgerbericht zu einem vielschichtigen Lesevergnügen, das tief in die Faszination des Jakobsweges eintauchen lässt.

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Christoph Müller OSB

NEULAND

UNTER DEN

SANDALEN

Ein Benediktiner auf dem Jakobsweg

Wir danken für die Abdruckgenehmigung des Gedichtes Im Nebel aus Hermann - фото 1

Wir danken für die Abdruckgenehmigung des Gedichtes „Im Nebel“ aus Hermann Hesse, Sämtliche Werke, Band 10 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2002.

Mitglied der Verlagsgruppe engagement 4 Auflage 2017 2010 Verlagsanstalt - фото 2

Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“

4. Auflage 2017

© 2010 Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Lektorat: Mag. Klaus Gasperi, A-6835 Muntlix

Umschlaggestaltung: stadthaus 38, Innsbruck

unter Verwendung eines Bildes von Rainer Juriatti

Alle Bilder © Christoph Müller außer S. 55 und S. 180 Cristina Doria-Drouve

Layout und digitale Gestaltung: Studio HM, Hall in Tirol

Lithografie: digiservice, Innsbruck

Druck und Bindung: FINIDR, Tschechien

ISBN 978-3-7022-3055-5 (gedrucktes Buch)

ISBN 978-3-7022-3276-4 (E-Book)

E-Mail: buchverlag@tyrolia.at

www.tyrolia-verlag.at

INHALT

Wie ich zum Jakobspilger wurde

„Go West!“

Erste Siesta in der Blumenkiste

Unter Ratten und Räubern

Ein rettender Engel

Nie wieder!

Fluchpsalmen und kulinarische Köstlichkeiten

Nun, auf nach Spanien!

Ein jämmerlicher Kaminfeger

Wie ein Kamel nach einer langen Wüstenwanderung

In der Arena

Verführungen und nächtliche Geschosse

„Sed“ – Durst

Die Matrone

Als „Stürmi“ unter Müden und Lahmen

Ein charismatisches „Morgenmahl“ inmitten der Eintönigkeit

Das heimwehkranke Pferd

Der schweigsame Gefährte

In der sibirischen Steppe

Die Unendlichkeit des Himmels

Ein Festschmaus zu Ehren des hl. Christophorus

Das Ende vor Augen

Die schweigsame Eskorte

Voller Unruhe

Keltische Klänge – zwischen Weihrauchduft und Widderhorn

Eine fachkundige Diagnose

„Wenn das Herz dich drängt …“

Unendlich „befreit“

Neues Ungemach

„Dann bete für Elena!“

Die letzten Schritte

Hier endet der Weg!

Dem Glücklichen schlägt keine Stunde

Ein Pilger baut keine Hütten!

Geschenkte Zeit – die Rückkehr

WIE ICH ZUM JAKOBSPILGER WURDE

Nein, wallfahren, das war nicht meine Sache. Dass ich damals den Schritt ins Internat des berühmten Wallfahrtsortes Einsiedeln tat, hatte allein mit meiner Faszination für afrikanische Wildtiere zu tun. Ich wollte Missionar werden und unter Löwen und Giraffen leben. Das ging aber nicht ohne Abitur. So kam ich ans Gymnasium des Klosters Einsiedeln.

Der Alltag im Internat gefiel mir über Erwarten gut. Die Lehrer in ihren schwarzen Kutten und das barocke Ambiente der Klosteranlage beeindruckten mich so sehr, dass die Bilder von Elefanten und Hyänen allmählich verblassten. Schließlich entschied ich mich, in dieses Kloster einzutreten und die Afrikamission anderen zu überlassen.

Den Wallfahrtsbetrieb nahm ich dabei in Kauf. Er störte mich nicht, war aber auch nicht meine Welt. Selber eine Wallfahrt zu unternehmen, das wäre mir nie in den Sinn gekommen. Von zuhause her war mir so etwas völlig unbekannt.

Gewiss, ich wusste, dass es den Jakobsweg gab und dass er im fernen Spanien endete. Aber nie hatte ich auch nur das leiseste Bedürfnis verspürt, ihn selber zu gehen. Mir genügte mein Tagwerk im Kloster. Aufbrechen, gar nach Santiago? Das überließ ich jenen, die Gefallen daran fanden.

In Einsiedeln wohnte ein Ehepaar, dem der Jakobsweg viel bedeutete, denn die beiden hatten sich dort kennengelernt. Sie waren eng mit unserem Kloster verbunden. Eines Tages gingen sie zum frisch gewählten Abt Martin. Es wäre gut, meinten sie, wenn er als junger Abt auch Anregungen aus anderen Klöstern bekäme. Sie schlugen vor, dass einer der Mönche mit ihnen eine Reise zu französischen Abteien unternehmen sollte, um ihm nachher darüber zu berichten.

Abt Martin fand die Idee gut, und ich war der Auserwählte. So kam es, dass ich mit dem Ehepaar verschiedene Abteien im Burgund besuchte. Nach meiner Rückkehr berichtete ich dem Abt ausführlich. Als ich mich verabschiedete, vertraute ich ihm noch etwas an, das mich seit dieser Reise nicht mehr losließ:

In Vézelay tauchte plötzlich der Wunsch auf den Jakobsweg zu gehen Fünf - фото 3

In Vézelay tauchte plötzlich der Wunsch auf, den Jakobsweg zu gehen .

Fünf Kilometer vor Vézelay, einer berühmten Station am Jakobsweg, hatten wir unser Auto geparkt. Meine Begleiter drückten mir einen Pilgerstab in die Hand. Gerne ging ich auf ihren Vorschlag ein, die kurze Strecke bis zur Kathedrale zu Fuß zurückzulegen. Doch dieses Wegstück mit seinem langsamen Aufstieg zur Kirche, der Anblick der alten Steinfliesen, das Betreten der romanischen Basilika und das stille Verweilen im heiligen Raum, der Gedanke an Tausende Pilger, die im Laufe der Jahrhunderte hier gebetet hatten – das alles berührte mich zutiefst. Spontan stieg in mir der Wunsch auf, selber den Jakobsweg, den sogenannten Camino, unter die Füße zu nehmen.

Nach dem jahrelangen „Bete und arbeite!“, wie ich es als Benediktiner gewohnt war, wollte ich Neuland unter meinen Füßen betreten. Zu meiner großen Überraschung sagte der Abt „ja“.

Kaum einer von uns Einsiedler Mönchen hatte den Camino je gemacht. Gewiss, mein Tischnachbar, der betagte Bruder Alois, rühmte sich immer wieder, dass er den Jakobsweg sehr wohl kenne. Wenn ich nachfragte, wie weit er ihn denn zu Fuß gegangen sei, antwortete er halb prahlend, halb schmunzelnd: „Also, ich stieg jeweils in Santiago aus dem Car und überquerte den Vorplatz bis zur Kathedrale, das waren ganz sicher hundert Meter!“

Ich hatte mir für den Pilgerweg Folgendes ausgedacht: In Einsiedeln starten und per Fahrrad die Schweiz und Frankreich durchqueren. Erst auf spanischem Boden würde ich den Lenker mit dem Pilgerstab vertauschen. Dann hieß es 700 Kilometer zu Fuß bis nach Santiago und wieder 700 Kilometer zurück, um schließlich per Rad nach Einsiedeln zurückzufahren. Der Abt stellte mir dafür 50 Tage zur Verfügung.

Was das Übernachten betraf, so wollte ich trotz des zusätzlichen Gewichts auf keinen Fall auf ein Zelt verzichten. Ich hatte einen Film gesehen, der mir den Schlaf raubte. Auf den Betten sitzend, stachen Pilger einander die Blasen auf, überall hing nasse Wäsche herum, und es wurde geschnarcht, dass die Balken krachten. Wie sollte ich, der ich über Jahrzehnte hinweg meine Mönchszelle allein bewohnte, da überhaupt Schlaf finden?

Rasch ging es ans Packen. Die Frage war jedoch nicht „Was nehme ich mit?“, sondern vielmehr „Was lasse ich alles zuhause?“ Zelt, Schlafsack und Luftmatratze alleine wogen schon drei Kilo. Keinesfalls würde ich mehr als zwölf Kilo mit mir herumtragen! Unverzichtbar erschienen mir aber verschiedene Kleider (auch warme), ein Regenponcho (der gleichzeitig als Zeltunterlage diente), Toilettenartikel, ein Reparaturset für das Rad, Helm, Pumpe, Esswaren, Trinkflasche, Messer, Taschenlampe und Fotoapparat sowie eine kleine Apotheke. Am Abend des 4. Juli 2003 stand das Fahrrad, mit einem unförmigen Rucksack beladen, im Klosterkeller bereit und wartete auf den Morgen.

„GO WEST!“

5. Juli

Um 5.30 Uhr begab ich mich in die Klosterkirche. Vor dem großen Aufbruch wollte ich nochmals mit den Mitbrüdern ins Gotteslob einstimmen. Gleich nach dem kräftigen Frühstück holte ich das Rad hervor und schob es bis zum schweren Klostergitter, das sich ächzend öffnete. Ich hielt einen kurzen Moment inne. Dann fiel das Tor ins Schloss. Und los ging’s.

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