H. Ezadi
MARIVAN UNTER DEN KASTANIENBÄUMEN
Ein kurdischer Roman
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2014
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.deabrufbar.
Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Titelbild © Ingrid Herzinger
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
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Titel H. Ezadi
Impressum Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar. Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig Alle Rechte beim Autor Titelbild © Ingrid Herzinger Hergestellt in Leipzig, Germany (EU) www.engelsdorfer-verlag.de
Vorwort
Hajeje
Pishahang (Scouts)
Das Kaffeehaus
Die mutige Bäuerin
Kak Foad im Hungerstreik
Die erste Demonstration in Marivan
Der Schah verlässt das Land
Die islamische Scheinrepublik
Das Camp „Kani Miran“
Zentralkomitee und Mamosta Sheik Ezzeadin
Zentralgefängnis der Komele-Organisation
Gefangenenaustausch
Wieder in Marivan
Die Liebe
Krieg und Hochzeit
Die wilde Landschaft „Shlir“
Irak, Zentraldruckerei und Geburt meines Sohnes
Ergänzung zu meiner Geschichte
Warum? Warum lautet die Überschrift meiner Zeilen, die ich schrieb:
„Marivan unter den Kastanienbäumen“?
Es ist leicht erklärbar, denn dort sind die Wurzeln meines Lebens, die ich scheinbar nie mehr werde sehen dürfen, auch nicht die Kastanienbäume und den Zarivar-See, der zu einer bestimmten Jahreszeit mit Seerosen geschmückt ist. Seit fast dreißig Jahren treibt mich die Sehnsucht nach meiner Heimat, obwohl ich durch viele Umstände, wie viele politisch Verfolgte des kurdischen Volkes, in der Welt aufgenommen wurde. Sonst würden wir alle nicht mehr leben. Ich bin dankbar dafür.
Ich weiß, es gibt Schlimmeres auf dieser Erde, als dass man weltweit, gleich welcher Medien-Berichterstattung immer nur von dem Wort „Kurdenproblem“ spricht. Ich fühle mich, wie damals, für unser Volk mitverantwortlich, das bis zum heutigen Tag für Freiheit und Gerechtigkeit kämpfte und weiter kämpfen muss. Wir sind ein Volk ohne Staat. Ein nicht anerkanntes Volk, weil es unterschiedlichen egoistischen Machtspielen der vermeintlichen Machthaber unterliegt und weil unser Volk wie ein Spielball der Machthaber behandelt wird. Ob zu Schahs Zeiten oder im heutigen Islamismus werden wir und unsere Kultur mit Füßen getreten, als würden wir nicht existieren und keine Rechte haben.
Warum werden wir als Rebellen gesehen? Nur weil wir für unser Volk von „Freiheit und Gerechtigkeit“ sprechen und nur träumen dürfen, nach all dem Unheil, das uns bis zum heutigen Tage verfolgt?
Mit dem Aufschreiben der Vergangenheit und meinen Gedanken versuche ich mit diesen Zeilen, das Erlebte für mich und meinen Sohn aufzuschreiben, damit wir uns alle erinnern. Erinnern an die Gräueltaten, die wir erlebten und derentwegen wir politisch aktiv werden mussten, um uns selbst und unser Volk zu schützen.
Nach dieser Vergangenheit sind viele Kurden mit ihrer eigenen, meist schrecklichen Geschichte weltweit in anderen Ländern aufgenommen worden und ich denke, wir alle sind sehr dankbar dafür, dass wir weiterleben durften, obwohl es uns versagt ist und bleibt, unsere Heimat wiederzusehen. Ich wiederhole diese Worte, weil es menschlich ist, dass wir alle aus vollem Herzen unsere Heimat wiedersehen möchten. Auch nach dieser langen Zeit ist es aufgrund der Verhältnisse im Iran nur ein Wunsch, ein Traum.
Vielleicht werden Sie sich fragen, warum ich meine Zeilen zunächst in deutscher Sprache schreibe und nicht in meiner Muttersprache. Die Antwort ist einfach: Es wäre mir in meiner kurdischen Muttersprache nicht möglich gewesen, da es entgegen jeglicher UN-Menschenrechte für uns verboten war, in kurdischer Sprache unterrichtet zu werden. Es bleibt lediglich das Sprechen in meiner Muttersprache. Der kurdischen Grammatik und des Schreibens bin ich nicht mächtig. Ich hätte mich nicht getraut, diese schwerwiegenden Themen, die mir seit Jahrzehnten durch den Kopf gehen, in meiner Muttersprache niederzuschreiben. Ich bin nur ein Mosaikstein dieses Unrechts von 45 Millionen Menschen der kurdischen Bevölkerung, die in Träumen ihre Geschichten und Gedichte nach ihren Möglichkeiten lesen, singen oder auf ihre Art und Weise zu Papier bringen.
Eines Tages besuchte mich eine Frau an meinem Arbeitsplatz, interessierte sich für die kurdische Geschichte und gab mir den Mut zu schreiben. In der langen Arbeit einiger Jahre konnte ich meine Geschichte aus meiner Erinnerung aufschreiben. Danke, liebe Ingrid.
Ein ganz besonderer Dank gilt Maleke, die mir erlaubte, ihre schreckliche, bedrückende und furchtbar grausame Familiengeschichte unter dem Schah-Regime, der Savak und am schlimmsten unter der islamistischen Regierung als Ergänzung zu meiner Geschichte zu veröffentlichen. Meine Gedanken sind bei dir, Maleke.
H. Ezadi, Januar 2014
MARIVAN unter den Kastanienbäumen
Ich war gerade von der Schule nach Hause gekommen. Es war ein schöner Vormittag und auf dem Nachhauseweg betrachtete ich bei blauem Himmel all die farbenfrohen Blumen am Wegesrand und freute mich, zu Hause meiner Mutter zu erzählen, dass ich heute an der Tafel von meiner Lehrerin gelobt worden war. Das kam ja nicht so oft vor.
Ich aß mit meiner Mutter und meinen Geschwistern eine Kleinigkeit und trank eine Tasse Milch. Danach sollte ich wie immer meine Hausaufgaben für die Schule machen. Als erstes Kind meiner Eltern musste ich ja mit acht Jahren schon ein Vorbild für meine Geschwister sein.
Plötzlich war mein Vater da. Er kam früher von der Arbeit nach Hause als an den anderen Tagen. Er wirkte sehr traurig, sein Gesicht war rot und nass, als hätte er geweint. Meine Mutter bemerkte das sofort und hielt aus Sorge die Hand vor ihren Mund. Sie fragte meinen Vater: „Was ist mit dir passiert, hast du geweint? Hat dir jemand etwas angetan?“
Als er nicht antwortete, fragte sie erneut: „Sag doch, bitte sag, was ist geschehen?“ Doch mein Vater antwortete nur: „Lass mich in Ruhe. Später erzähle ich dir, was passiert ist.“
Meine Mutter ließ nicht locker, weil sie meinen Vater noch niemals so traurig gesehen hatte. Sie wollte den Grund für seine Traurigkeit wissen.
Ihr Mann, mein Vater, war ein Geschäftsmann und besaß einen eigenen Laden auf dem Basar. Seine Kunden waren viele kleine Einzelhändler. Mein Vater fuhr jede Woche einmal mit dem Bus nach Teheran, um dort die Waren zu bestellen, die dann wenige Tage danach mit einer Speditionsfirma vor seinen Laden in Marivan gebracht wurden. Nachdem alles sortiert war, konnte er den Einzelhändlern die Waren in kleinen Mengen aushändigen. Diese kamen stets mit einem kleineren Koffer, füllten ihn und gingen dann zu Fuß in Richtung der Dörfer rund um die Stadt Marivan, um die Waren von Haus zu Haus anzubieten. Nachdem sie mit ihrer stundenlangen Arbeit fertig waren, liefen sie zurück zu „Haje“, Ahmad, meinem Vater. Das eingenommene Geld befand sich jeweils in den Koffern. Nachdem es gezählt war, bekamen sowohl die Einzelhändler als auch mein Vater als eine Art Großhändler jeweils fünfzig Prozent der Verkaufserlöse. Viele Jahre waren beide Parteien mit dieser Lösung zufrieden und jeder von ihnen konnte seine Familie ernähren.
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