Meine Mutter kam zu mir. Ihr Gesicht war vor lauter Aufregung rot. „Nimm das Geld“, bat sie mich, „und kaufe uns Brot beim Bäcker.“
Ich wusste aber doch, wir brauchten kein Brot, es war genügend in der Küche. Sie wollte mich wegschicken, um ungestört mit meinem Vater zu sprechen. Ich würde dabei nur stören. Ich sagte zu ihr: „Ja, ich gehe.“ Aber ich tat nur so, als würde ich zum Bäcker gehen, blieb aber zu Hause, weil ich hören wollte, was mit meinem Vater passiert war. Ängstlich versteckte ich mich hinter der Haustür und lauschte. Der Vorhang an der Haustüre schützte mich; niemand konnte mich sehen. Unbemerkt hörte ich zu, was mein Vater meiner Mutter erzählte.
Mein Vater sagte: „Heute war die Savak bei mir und sie haben mich zu einem Verhör in ihr Büro abgeholt.“
„Savak?“, fragte meine Mutter entsetzt. „Warum, was wollten sie von dir?“
Mein Vater antwortete: „Sie wollten nichts von mir. Sie wollten nur wissen, ob jemand bei mir gewesen war, den sie festgenommen haben. Ob ich den kenne. Die Beamten brachten mich in einen anderen Raum und ich sah einen alten Mann zusammengekauert am Boden liegen. Seine Hände und Füße waren gefesselt und er war blutüberströmt.“ Mein Vater weinte vor den Augen meiner Mutter. „Sie haben Hajeje gefoltert. Alle Finger- und Fußnägel haben sie ihm mit einer Beißzange ausgerissen. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie so etwas Schlimmes gesehen. Er lag am Boden wie ein Stückchen Elend, wie ein verletztes Tier.“ Mein Vater machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach: „Mele, das war Uhlhassan Hajeje. Die Savak hatten ihn an der Grenze zum Irak festgenommen und dachten, er sei ein Iraki und ein Spion, weil der arme alte Mann nicht Persisch sprechen konnte. Der alte Mann hatte der Savak nur immer wieder meinen Namen genannt. Deswegen haben sie mich abgeholt und dorthin gebracht. Sie fragten mich, ob ich den Mann kenne, und ich habe geantwortet: ‚Ja ich kenne diesen Mann. Er ist Hajeje und verkauft meine Waren in einem Dorf, das nahe der Grenze zum Irak liegt. Deshalb war er nahe der Grenze.‘ Ich sagte den Beamten, dass er unschuldig und harmlos ist. Dann musste ich etwas unterschreiben. Alles, was ich gehört oder gesehen habe, darf ich niemandem erzählen, sonst machen sie mit mir, was sie wollen.“ Mein Vater bat meine Mutter: „Sag auch du zu keinem Menschen ein Wort! Du weißt, die Savak Leute können uns einfach umbringen. Weißt du, die Wand hat Mäuse mit Mund und Ohren; außerdem braucht unser Sohn Hussein das auch nicht zu erfahren, er ist noch zu jung und unerfahren.“
Zitternd lauschte ich hinter dem Vorhang den Worten meiner Eltern. Ich fühlte mich schuldig, weil ich nicht aus Sorge um meinen Vater zum Bäcker gegangen war.
Mein Vater sprach weiter: „Ich habe Hajeje Uhlhassan hinter meinen Laden gebracht. Er braucht Medizin und Pflege, bis er wieder laufen kann und gesund wird. Verbinde seine Finger und seine Zehen einzeln. Er muss irgendwann wieder laufen und mit seinen Händen greifen können, damit er sein Leben selbständig meistern und einen Löffel zu seinem Mund führen kann. Du musst dich um ihn kümmern. Bringe ihm täglich einen Teil von unserem Essen in einer Schüssel, damit er wieder zu Kräften kommt. Das Essen sollte warm oder heiß sein, damit sein armer Körper Wärme spürt.“
Meine Mutter streckte ihre Hand nach oben und murmelte vor sich hin. Sie schimpfte auf den Schah und die Savak-Beamten und fragte: „Bis wann muss man dieses Unrecht hören und sehen, wenn man nichts unternimmt?“
Endlich lief ich zum Bäcker. Nachdem ich das Gespräch zwischen meinen Eltern mitbekommen hatte, war ich in tiefen, traurigen Gedanken versunken, weil auch ich diesen armen alten Mann kannte. Ich wusste, er konnte nicht lesen und auch kein Persisch sprechen. Jetzt wusste ich, warum alle in meiner Stadt Angst vor den Savak-Leuten hatten. Wenn sie ein weißes Auto sahen, waren sie ängstlich und liefen schnell weg. Jetzt bekam auch ich Angst, ein kleiner Junge mit acht Jahren. Ja, ich hatte mir das Bild in meinen Gedanken vorgestellt, das mein Vater gesehen hatte. Folter, verstümmelte Finger und Zehen, Blut. Ein furchtbarerer Gedanke, der mich wochenlang bis in den Schlaf verfolgte. Aber wie meine Mutter durfte auch ich das, was ich gehört hatte, mit niemandem teilen. Ich blieb still, doch es prägte mein junges Leben, dass mir diese Grausamkeiten des Schah-Regimes zu Ohren gekommen waren.
Wir Kinder verbrachten die Zeit, wie eben Kinder sind. Wohlbehütet in meinem Elternhaus wurde ich von Jahr zu Jahr größer und erwachsener. Doch eines Tages passierte Folgendes:
Wir saßen alle in unserer Schulklasse, hatten gerade Mathematikunterricht, schauten lautlos auf die Tafel und lauschten unserem Lehrer, der uns Plus und Minus erklären wollte. Er sagte: „Die Multiplikation und die Division erkläre ich erst nächste Woche.“ Unser Klassenbester, Farhad, hob den Finger und behauptete: „Herr Lehrer, ich weiß das alles schon!“ Wir Kinder wussten gleich, was der Lehrer zu ihm sagen würde und lachten über Farhad, weil er immer alles besser wissen wollte. Doch schon nach kurzem Gelächter waren wir alle wieder still und folgten dem Plus und Minus an der Tafel.
Plötzlich klopfte es sehr laut an der Klassenzimmertür. Neugierig, wer uns um diese Zeit besuchen würde, öffnete unser Lehrer die Tür. Er war überrascht, ebenso wie wir Kinder. Unser Lehrer sagte: „Barpa.“ Das bedeutet, dass alle ehrfürchtig aufstehen mussten, wie ein Soldat, die Arme und auch die Hände dicht am Körper.
Der Schuldirektor betrat unser Klassenzimmer. Er war recht freundlich und sagte: „Liebe Kinder, setzt euch.“ Wir nahmen Platz und er sprach weiter: „Liebe Kinder dieser Schule, im Namen von Prinz Wahlyahed (des Königs Nachfolger) habe ich Folgendes zu verkünden: Wie in anderen Schulen in unserem Land Iran wird in Kürze Pishahang eingeführt. Alle Eltern sollen euch eine Uniform kaufen. Das ist freiwillig. Wer mitmachen möchte, ist herzlich eingeladen.“ Der Schuldirektor hatte die Schuluniform mitgebracht und zeigte sie uns. Es war ein schöner Anzug, wie für einen General gemacht – an den Schultern waren goldene Schleifen, so ähnlich wie bei einem Birkenbaum, und ein Emblem, wie die Polizei es hatte. Der Schuldirektor nahm einen Hut aus der Tasche. Er sah aus wie ein Hut der Verkehrspolizei. Anstelle der Krawatte, welche die Polizisten trugen, gab es ein rotes Tuch, das man wie einen Schmetterling um den Hemdkragen herum binden konnte. Es sah aus wie eine rote Fliege, wie eine Libelle oder wie ein Schmetterling. Sehr schön. Zudem sollten uns die Eltern ein zusätzliches weißes Hemd kaufen, weil man eines für jeden Tag brauchte.
Der Schuldirektor erklärte uns, wie wichtig es sei, dass wir alle in dieser Uniform sauber und ordentlich aussehen. Es sei eine große Ehre, sie zu tragen. Nun begann er uns Pishahang zu erklären. Oh, wirklich, wir waren alle sehr aufgeregt und neugierig.
„Pishahang ist ein Vorbild für alle. Ihr werdet das Vorbild für andere sein, ihr müsst stets hilfsbereit sein und viele gute Taten tun. Weiterhin werdet ihr während der Schulferien in dieser Uniform gute Dinge für eure Mitmenschen tun. Ihr könnt die Straßenpolizei unterstützen, indem ihr alten Menschen helft, sicher über die Straße zu kommen. Ihr werdet immer aufmerksam sein, wenn Menschen eure Hilfe brauchen. Haltet stets eure Augen auf. Die Uniform verleiht euch die Aufmerksamkeit. In den Sommerferien werden Camps für euch eingerichtet, die das Ministerium mitfinanziert. Hier lernt ihr dann Pishahang aus anderen Städten kennen, auch aus anderen Ländern Asiens. Liebe Kinder, das war meine heutige Botschaft an euch. Geht nach der Schule nach Hause und sprecht mit euren Eltern. Sie müssen ihr Einverständnis in der Schule abgeben, damit wir wissen, wer von euch bei dieser wunderbaren Idee mitmacht. Die Kopfnoten eurer Zeugnisse, Moral und Erziehung, werden bei der Auswahl, wer mitmachen darf, einbezogen, also seid stets brave Schüler.“ Der Schuldirektor verabschiedete sich und unser Lehrer sagte laut und bestimmend: „Barpa.“ Wie Soldaten standen wir auf und durften uns erst setzen, als sich die Tür hinter dem Schuldirektor schloss.
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