„Ihre Frau hat Recht“, sagte der Mann. „Wir wissen nicht, wer in dem Wagen sitzt, und können nicht ausschließen, dass dieser Jemand gefährlich ist. Vielleicht ist er sogar bewaffnet.“
„Dann schließe ich die Tür zur Garage ab“, erklärte Michael bestimmt.
„Sei vorsichtig“, rief Tina ihm hinterher. „Möglicherweise ist er ausgestiegen und befindet sich bereits im Haus.“
Als Michael zurückkehrte, traf er Tina und den Fremden im Wohnzimmer an. Sie saßen in gekrümmter Haltung auf den Kanten ihrer Sessel, die Ellbogen auf den Knien und die Köpfe müde in die Handballen gestützt. Auf dem Boden lagen zwei blaue Handtücher, mit denen sie sich offensichtlich Gesicht und Haare notdürftig trockengerieben hatten.
Michael durschritt den Raum, nahm drei Gläser und eine halbvolle Flasche Cognac aus dem hellen Holzschrank, kippte mehr als zwei Fingerbreit in jedes Glas und reichte Tina und dem Mann anschließend den Drink. „Auf den Schrecken“, sagte er dann und ließ sich auf die Couch fallen.
„Und zum Aufwärmen“, ergänzte der Unbekannte. „Vielen Dank.“
Tina trank den Alkohol in einem Zug und genoss die wohltuende Wärme, die sich sekundenschnell in ihrem Körper ausbreitete. Endlich erlangte sie die Kontrolle über ihre Gliedmaßen zurück. Endlich zitterte sie nicht mehr. Kasper ließ sich auf ihren Füßen nieder und Tina genoss den weichen, warmen Hundekörper.
Die drei schwiegen. Was hätten sie auch sagen sollen?
Plötzlich pulsierte unruhiges Blaulicht durch das Wohnzimmerfenster und tauchte die drei Gesichter abwechselnd in ein gespenstisches Licht. Michael sprang auf und stürzte zum Fenster. Zwei Einsatzfahrzeuge der Polizei parkten direkt vor ihrem Haus. Fast im selben Moment klopfte es.
Michael eilte zur Eingangstür und riss sie auf. Unter dem Vordach drängelten sich vier uniformierte Polizisten, um sich vor dem Regen zu schützen. Tina und der Mann traten hinter Michael. Kasper wedelte aufgeregt mit dem Schwanz.
„Befindet sich der Mann noch in Ihrem Fahrzeug?“ wollte einer der Beamten wissen.
Michael zuckte kurz mit den Schultern. „Zumindest ist er noch in der Garage“, fügte er dann hinzu und wies auf das Gebäude, in dem sich Tinas Wagen befand. „Sie ist mit dem Haus durch eine Tür verbunden, die ich vorhin verriegelt habe.“
„Gut gemacht“, lobte der Polizist. „Haben Sie eine Fernbedienung für die Garage?“
Tina nickte.
„Geben Sie sie mir“, forderte der Beamte und drängelte sich mit einem weiteren Polizisten an der kleinen Gruppe vorbei ins Haus.
Tina folgte den beiden und griff nach ihrer Handtasche. Sie wühlte hastig darin herum und reichte dem Uninformierten die Fernbedienung. Er nickte seinen auf den Treppenstufen stehenden Kollegen kurz zu. Die beiden rannten im Laufschritt die wenigen Meter bis zur Garage. Das Klappern ihrer Schuhe schluckten der Regen und die Häuserwände. Sie postierten sich breitbeinig mit eingeschalteten Taschenlampen über gezogenen Pistolen vor dem verschlossenen Tor. Die beiden anderen Beamten ließen sich von Michael den Weg zu der Tür zeigen, durch die Tina vor nur wenigen Minuten ins Haus gestolpert war und die Michael jetzt entriegelte.
„Okay, wir machen jetzt das Tor auf“, flüsterte einer der Polizisten in sein knarrendes Funkgerät. „Sie gehen bitte wieder zurück“, befahl er und hielt Tina und die beiden Männer mit seinem Arm zurück. Doch die drei blieben wie angewurzelt stehen.
„Hauen Sie ab, verdammt noch mal“, wiederholte der Beamte. „Sie behindern eine Polizeiaktion.“
Michael fasste Kasper am Halsband und zog sich mit Tina und dem Fremden einige wenige Schritte zurück. Der Labrador wedelte freudig mit dem Schwanz.
„Das ist ganz und gar nicht lustig, Kasper. Du bist ein dummer Hund“, raunte Tina ungehalten.
Aber das Tier wedelte weiter mit dem Schwanz und tänzelte auf der Stelle.
Tina schüttelte den Kopf über die ungetrübte Spiellust des Labradors.
Die Polizisten zückten ihre Waffen und Taschenlampen und öffneten die Verbindungstür zwischen Haus und Garage.
Zwei weitere Lichter durchschnitten die Dunkelheit, als das Garagentor langsam hochglitt. Die Polizistenpaare betraten gleichzeitig den Raum, in dem Tinas Audi stand.
Die vier Uniformierten hatten mir einigen wenigen Blicken gescannt, dass niemand in der Garage war und postierten sich nun hochkonzentriert zu beiden Seiten des Wagens. Sie richteten ihre Waffen und Taschenlampen auf die hinteren Fensterscheiben und blendeten den Passagier, der immer noch bewegungslos auf dem Rücksitz verharrte.
„Zeigen Sie uns Ihre Hände“, rief einer der Beamten laut. Tina machte in seiner Stimme die gleiche Spannung aus, die sich durch ihre Eingeweide fraß.
Der Fremde blieb bewegungslos sitzen. Der Aufruhr um ihn herum ließ ihn offensichtlich völlig unberührt.
Ein Polizist riss die Wagentür auf.
Der Mann auf dem Rücksitz drehte in Zeitlupentempo den Kopf und starrte mit großen tiefblauen Augen vollkommen verwirrt in das grelle Licht der auf ihn gerichteten Lampen.
Er wehrte sich nicht, als der Beamte seinen Jackenkragen packte und ihn grob aus dem Audi zerrte. Widerstandslos und mucksmäuschenstill ließ er sich gegen die Motorhaube drücken und folgte mit spärlichen Bewegungen dem Befehl, die Hände auf den Rücken zu legen. Die Handschellen klickten, als der Uniformierte sie um die Gelenke des Fremden legte.
Es war vorbei.
Der blinde Passagier stellte keine Gefahr mehr da.
Tina drängelte sich an Michael vorbei und spähte vorsichtig durch die geöffnete Tür. Sie blickte in das Gesicht des Mannes und fragte sich erstaunt, wo sie ihm schon einmal begegnet war.
Draußen krachte es wieder einmal. Blitz und Donner – wie Boten des jüngsten Tages. Der Regen klatschte aus düsteren Wolkenbergen schwer gegen die hohen Fensterscheiben, spülte den Straßenstaub vom Glas auf die Fensterbank und verteilte ihn von dort aus über die Fassade des alten Gebäudes. Die Spannung in den Wolken schien sich direkt über dem Polizeipräsidium zu entladen.
Kommissar Dirk Plock warf immer wieder einen Blick auf den vollgekritzelten Notizblock vor sich, während er seiner Chefin ausführlich Bericht erstattete.
„Der Typ war bislang völlig unauffällig“, erklärte er gerade. „Arbeitet als Mechaniker in einer kleinen Autowerkstatt. Ich hab‘ heute ziemlich lange mit seinem Chef gesprochen. Der hat mir erzählt, dass der Kerl ein erstklassiger Mitarbeiter ist. Einer, der seine Arbeit immer gründlich macht und immer pünktlich, ruhig und zuverlässig ist. Schiebt, ohne zu murren, massig Überstunden, wenn es nötig ist, weil zu viele Aufträge reinkommen. Gut für den Chef. Der musste so keinen einzigen Auftrag ablehnen oder Kunden vertrösten. Unser Mann ist extrem pingelig und ordnungsliebend. Völlig schleierhaft, wie der so austicken konnte.“ Plock hob die Achseln. „Kaffee?“ fragte er dann, lief die wenigen Schritte zur Kaffeemaschine und füllte Claudia Heims‘ Tasse bis zum Rand, als diese nachdenklich nickte.
„Habt ihr bei den Nachbarn irgendetwas in Erfahrung gebracht, das uns weiterhilft?“ wollte Heims wissen und runzelte die Stirn, als sie bemerkte, wie viel Kaffee Plock in ihre Tasse geschüttet hatte.
Er ignorierte den vorwurfsvollen Blick und wog bedächtig den Kopf hin und her. „In der Gegend ziehen die meisten Leute ein und aus. Da nimmt keiner großen Anteil am Leben seiner Nachbarn. Allerdings behaupten die Familien aus Barnerts Haus, dass neben seiner Mutter ein älterer Herr mit in der Wohnung lebte. Den hat das Einwohnermeldeamt dort auf jeden Fall nicht verzeichnet. Ansonsten sagen alle einstimmig über Barnert, dass er immer sehr freundlich grüßt, wenn er im Treppenhaus jemandem über den Weg läuft, sich aber auf keine Unterhaltung einlässt. Wenn es stimmt, was die Nachbarn sagen, hat er nie Besuch und geht außer zur Arbeit nur sehr selten aus dem Haus.“
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