„Du grinst ja wie ein Honigkuchenpferd“, sagte Mama leise und tätschelte kurz seinen Kopf.
Er öffnete den Karton, nahm das Auto zärtlich in beide Hände und betrachtete es. Er öffnete die Türen, zog die gelbe Leiter aus und drehte sie vorsichtig. „Das habe ich mir so gewünscht“, flüsterte er andächtig.
„Das ist schön“, antwortete Mama, erhob sich und nahm zwei Teller aus dem Küchenschrank.
Sie öffnete die quietschende Schublade mit dem leicht angelaufenen Besteck und kramte nach einem Messer. Dann setzte sie sich wieder.
„Puste die Kerzen aus und wünsch dir was“, sagte Mama. „Du darfst aber niemandem verraten, was du dir gewünscht hast. Sonst geht es nicht in Erfüllung.“
Er kniete sich auf seinen Stuhl und beugte sich über den Kuchen. Dann holte er so tief Luft, wie er nur konnte, und pustete, bis die Flammen erloschen waren und grauer Rauch von den Kerzen aufstieg.
„Das hast du gut gemacht“, lobte Mama, leckte Daumen und Zeigefinger und kühlte damit die Dochte, dass es zischte.
Er strahlte über das ganze Gesicht, lief zu ihr und kletterte auf ihren Schoß.
„Du bist schwer geworden. Lange kann ich dich nicht mehr auf den Schoß nehmen“, klagte Mama und seufzte tief. „Aber du bist ja jetzt schon ein großer Junge.“
Er lächelte sie an, kuschelte sich an ihre Brust und legte seinen Kopf an ihre Schulter.
Das tat gut.
„Du tust mir weh. Steh auf!“ fuhr Mama ihn an.
Er hatte sich so sehr gewünscht, ein bisschen mit ihr zu schmusen, auch wenn sie so komisch roch. Aber sie wollte das nicht.
Also rutschte er von ihren Knien auf den Fußboden. Dabei fiel der Morgenmantel auseinander, und er starrte erschrocken auf die vielen blauen Flecke an ihren sonst ganz weißen Oberschenkeln.
Mama ignorierte seinen Blick. Sie stand auf, hob den alten Wasserkocher von der Basisstation, hielt ihn unter den Kran über der Spüle und ließ Wasser in das Gerät laufen. Sie klatschte es sorglos auf die Basisstation zurück und stöpselte den Stecker ein. Dann drückte sie auf den roten Knopf. Während sie ungeduldig wartete, dass das Wasser heiß wurde, nahm sie zwei Tabletten aus einer Schachtel auf dem Regal neben der Spüle, warf sie in eine Tasse und goss das kochende Wasser darüber.
Mama nannte das Katerfrühstück. Solange der denken konnte, schlürfte sie dieses Katerfrühstück fast jeden Morgen.
Nun schnitt sie zwei Stücke Kuchen ab, legte sie auf die Teller und schob einen davon zu seinem Platz. Der Schokoladenduft stieg ihm angenehm in die Nase und er spürte, wie sein Magen knurrte. Er war hungrig.
„Nun iss deinen Geburtstagskuchen“, sagte sie ein bisschen ungeduldig.
Er lief schnell zurück zu seinem Stuhl, kletterte hinauf und kniete sich auf die Sitzfläche. Er beugte sich nach vorn und griff nach seinem Kuchenstück. Dabei stieß er gegen die Tasse mit den Tabletten und dem heißen Wasser, das sich nun über den Tisch ergoss und auf Mamas Oberschenkel tropfte.
Sie sprang auf und warf dabei den Küchenstuhl um.
„Was bist du nur für ein ungeschickter Junge“, schrie sie aufgebracht.
Ja, das war er – ungeschickt. Solche Dinge passierten ihm ständig. Er war kein gutes Kind. Das wusste er.
„Es tut mir leid“, wisperte er und beeilte sich, zu ihr zu laufen, um sie zu drücken.
„Geh weg! Womit habe ich das nur verdient?“
Mama raufte sich das lange, blonde Haar. „Womit habe ich das verdient?“ sagte sie noch einmal und sah ihn wütend an.
Er wusste, was jetzt kam. Er war böse gewesen. Jetzt musste Mama ihn bestrafen.
„Geh zu Onkel Rolf“, befahl sie scharf.
Er schluckte.
„Mama, bitte nicht. Ich bin ein böser Junge, aber ich will nicht zu Onkel Rolf, nicht heute. Bitte nicht!“ wisperte er ängstlich.
Er spürte, wie sein Magen zusammenschrumpfte und ihm übel wurde. Er wollte sich nicht übergeben. Es war doch sein Geburtstag.
„Allein werde ich mit dir nicht fertig. Geh zu Onkel Rolf!“ sagte sie.
Er hätte so gern von seinem Kuchen genascht. Aber jetzt war ihm schlecht. Er hatte keinen Hunger mehr. Der Kuchen war ihm egal.
Langsam, ganz langsam, durchquerte er die Diele, machte vor der Tür zu Onkel Rolfs Schlafzimmer halt und legte zögerlich die Hand auf die Klinke.
„Muss ich es noch mal sagen?“ hörte er Mama in der Küche fragen – mit einem Ton in ihrer Stimme, der keinen Widerspruch zuließ.
Kopfschüttelnd zog er die Klinke herunter, schob die Tür auf und schloss sie leise hinter sich zu. Dann zog er seinen Schlafanzug mit den kleinen, braunen Bambis aus, faltete ihn, so, wie Mama es ihm gezeigt hatte, und schlüpfte zu Onkel Rolf unter die Bettdecke.
Es war schon weit nach Mitternacht. Eine dichte Wolkendecke verbarg den vollen Mond und die zahlreichen Sterne der kühlen Sommernacht. Ein scharfer Wind trieb den fliehenden Regen in großen Böen vor sich her und heulte um das freistehende Restaurant. Die Geburtstagsgesellschaft hatte sich gerade auflösen wollen, als sich der Sturm plötzlich zusammenbraute und ein tosendes Gewitter losbrach. Jetzt saßen die Gäste, wieder in Gespräche vertieft, an den Fenstern und beobachteten geduldig, wie der Regen langsam nachließ und die klaren Tropfen, die an den Scheiben herabperlten, weniger wurden.
„Ein fürchterliches Sommergewitter, doch ich glaube, wir können uns nun langsam auf den Heimweg machen“, stellte Tina fest und knetete ihre Finger, sah Astrid aber dennoch fragend an.
Astrid nickte zustimmend. Die zwei Frauen standen auf, verabschiedeten sich erneut von der Gastgeberin, winkten den anderen Gästen kurz zu und verließen das Restaurant. Mit hochgezogenen Schultern strebten sie zum Parkplatz.
„Wir hätten einen Schirm mitnehmen sollen. Der gehört doch in diesem Sommer zur Standardausrüstung“, klagte Astrid. Dann blickte sie Tina mit zusammengezogenen Brauen an. „Ruf mich an, wenn du gut zuhause angekommen bist, okay? Und richte Michael gute Besserungswünsche aus.“
Astrid und Tina umarmten sich, dann schloss Astrid ihr Fahrzeug auf und glitt mit einer eleganten Bewegung hinter das Lenkrad. Tina nickte und schlug Astrids Autotür kräftig zu, was die Freundin mit einem bösen Blick quittierte. Sie stakste über den regendurchweichten Boden zu dem schwarzen Audi, der nur ein paar Meter weiter parkte.
Ihre Riemchensandalen versanken bei jedem Schritt tief im Matsch, der schwarz zwischen ihren Zehen hervorquoll. Tina öffnete die Fahrertür und ließ sich auf den Sitz fallen.
„Verdammt“, fluchte sie leise.
Mit einem Papiertaschentuch säuberte sie notdürftig Füße und Schuhe und warf das schmutzige Tuch dann in den ansonsten leeren Fußraum auf der Beifahrerseite.
Sie startete den Wagen, setzte rückwärts und fuhr anschließend zügig auf die verlassene Straße, die tief in den Wald führte. Sie atmete auf, als die Räder des Audis auf dem Asphalt griffen.
Die Dunkelheit ließ die tropfnassen Bäume, durch die ein kräftiger Wind blies, geisterhaft erscheinen. Sie bogen sich mal hierhin, mal dorthin, wie von Geisterhand gezogen und geschoben. Der Regen war wieder stärker geworden. Die Scheibenwischer leisteten gute Arbeit. Trotzdem klebten Tinas blaugrüne Augen aufmerksam auf der Fahrbahn. Sie hasste es, nachts zu fahren, ganz besonders wenn es so regnete wie jetzt und sich das grelle Licht der Scheinwerfer diffus in der Nässe spiegelte.
„Achte auf die Straße“, mahnte sie sich selbst. „Konzentrier dich.“ Sie biss sich schmerzhaft auf die Unterlippe. Wenn sie mit ihrem Mann unterwegs war, fuhr Michael nach Sonnenuntergang oder bei schlechtem Wetter. Ihm machte das nichts. Sein Sehvermögen war der schlechtesten Witterung und der tiefsten Dunkelheit gewachsen.
Sie lächelte bei dem Gedanken an ihren Mann. Ganz gewiss ging es ihm schon wieder besser. Astrids Genesungswünsche wollte sie mit einem leicht ironischen Unterton in ihrer Stimme und einem süffisanten Grinsen ausrichten.
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