Sie würde schon drüber hinweg kommen. Sein Bruder reagierte nicht. Zusammengekauert hockte er da und hielt sich den Kopf, als habe er Kopfschmerzen. Langsam ging er auf ihn zu, doch Kiran bewegte sich auch nicht, als er ihn sanft schüttelte. Er hockte sich neben ihn und blickte ihn an. Sein Bruder hatte die Augen geschlossen und die Lippen zusammen gepresst. Alles war voller Blut und einige Tropfen quollen noch zwischen seinen Lippen hervor. Er warf einen kurzen Blick zu seiner Freundin. Sie hatte die Verbliebenen dazu gebracht, auf einer Bank Platz zunehmen. Wie sie das geschafft hatte, war ihm derzeit egal, aber er war ihr unendlich dankbar dafür. Um die Leichen würde sich Sophie kümmern müssen, die Lebenden machten ihm im Augenblick viel mehr Sorgen, davon abgesehen, dass sein Bruder momentan nicht wirklich ansprechbar war. Zum Glück wehrte er sich nicht, als er ihn dazu drängte aufzustehen. Er brachte ihn zu Saskia und es bekümmerte ihn, als Kiran dort wieder in sich zusammensackte. Trotzdem wandte er sich um und ging zu Abigail hinüber. Als er die Leichen und die Lebenden betrachtete, schauderte er. Es musste seinem Bruder gelungen sein, über zwanzig Menschen gleichzeitig zu beherrschen. Die Macht, die er mit den Jahren erreicht hatte war erschreckend. Alister selber musste zu jedem Einzelnen gehen und ihm laut den Befehl erteilen, dass er gehen und die Ereignisse dieser Nacht vergessen sollte.
„Dein Bruder macht mir angst.“ flüsterte Abigail.
„Mir auch...“ er blickte zu Kiran, der immer noch neben Saskia saß und sich nicht bewegte „Mir auch...“ seine Stimme wurde leise und Trauer schwang in seinen Worten mit „Aber komm, wir müssen ihn hier weg bringen, dann kommt er hoffentlich bald wieder zu sich.“
Gemeinsam brachten sie Kiran zu Alisters Auto. Saskia trottete langsam hinterher und freute sich, als er ihr die Vordertür aufhielt. Abigail bekam den Schlüssel und er setzte sich zu seinem Bruder nach hinten. Die Fahrt dauerte nicht lange. Kiran war auf dem Hinweg einen riesigen Umweg gefahren. Das Radio enthüllte, dass die Panik in der Innenstadt noch immer anhielt. 6 Leichen auf offener Straße und niemand hatte etwas gesehen, obwohl viel los war. Alister fröstelte. Wie viele Menschen hatte er gleichzeitig kontrolliert um das zu bewerkstelligen? Die Werwolfdame parkte den Wagen dann brachten sie Kiran in die Wohnung zurück, wo sie ihn im Badezimmer auf den Boden setzten. Die beiden Brüder blieben alleine zurück, während Saskia und Abigail in die Küche gingen. Sorgsam zog Alister seinen Zwilling aus bevor er ihn unter die Dusche schob. Blut floss in den Abguss und langsam schienen Kirans Lebensgeister zurückzukehren. Zumindest stand er auf und nahm seinem Bruder den Duschkopf ab.
Leise murmelte er „Mir ist schlecht...“ wobei das Brausen der Dusche es beinahe übertönte, während sich nach und nach immer mehr Blut aus seinen Haaren und von seinem Körper löste. Kirans Blick schien keinen Halt zu finden und streifte durch das Badezimmer, bis er auf der Schulter seines Bruders, der sich auf den Klodeckel gesetzt hatte, zur Ruhe kam. Sein Hemd war zerfetzt und voller Blut und auch die Haut darunter war rötlich braun verkrustet. Beschämt wandte er sich ab. Es war nicht die Tatsache, dass sein Bruder dort saß und ihn beim Duschen beobachtete. Ein Schamgefühl ihm gegenüber hatte er nie besessen. Es war die Tatsache, dass er ihn gebissen hatte. Der Geschmack von Alisters Blut in seinem Mund wollte nicht vergehen, also spülte er sich den Mund mit Wasser aus. Es schmeckte nicht und er musste husten, als er etwas runter schluckte. Sobald nur noch klares Wasser den Boden der Dusche bedeckte stieg er hinaus, nahm das Handtuch, das sein Bruder ihm stumm hin hielt und trocknete sich ab. Sein Blick war auf den Boden gerichtet, er wollte Alister nicht in die Augen sehen. Schuldgefühle nagten an ihm, als er in sein Zimmer ging um sich anzuziehen. Fließendes Wasser verriet ihm, dass sein Bruder sich die Schulter wusch.
Kurz darauf hörte er ihn in der Küche „Du kannst jetzt ins Bad.“ sagen und ein paar Minuten darauf hörte er die Dusche erneut.
Kiran saß auf seinem Bett, eine frische Hose angezogen, aber noch offen und nur einen Socken an. Die Übelkeit wollte nicht verfliegen. Er konnte sich nur Schemenhaft an die Ereignisse erinnern und die zeigte ihm, dass er Abigail hatte angreifen wollen, aber der Geschmack von dem Blut seines Bruders brannte immer noch in seinem Mund. Alister musste also dazwischen gegangen sein. Was fand er nur an einem Werwolf? Andererseits hatte er mit dieser Aktion auch die Menschen gerettet, die Kiran noch nicht getötet hatte. Er befand, er müsse ruhiger werden. Die letzten Tage hatten ihn ausgebrannt, was dazu führte, dass er bei der geringsten Gelegenheit die Beherrschung verlor, vor allem, wo er ohnehin schon besonders anfällig für den Rauschzustand war, der durch Blut hervorgerufen werden konnte... Dafür fühlte er sich körperlich in Bestform. Selbst schwere Verletzungen heilten binnen Sekunden und kein normaler Mensch konnte sich ihm noch widersetzen. Aber nun würde er Saskia beruhigen und irgendwie den Geschmack aus seinem Mund bekommen müssen. Nach dem Ankleiden ging er in die Küche. Die Dusche lief immer noch und in der Küche befanden sich nur sein Bruder und seine Freundin. Die Anwesenheit eines Werwolfs machte ihn enorm nervös, aber das versuchte er zu ignorieren. Abigail war immer noch blass und das Licht der auf dem Tisch brennenden Kerze hob diese Blässe noch hervor. Alister saß neben ihr und hielt ihre Hand. Keiner der Beiden sagte etwas. Auch nicht, als Kiran sich mit einem vollen Glas an den Tisch setzte. Zumindest die Splitter waren weggefegt worden, die Blutspritzer vom Vortag waren hingegen noch da. Er starrte sein Glas an, vermied den Blick zu seinem Bruder. Auch wenn er ein frisches, heiles Hemd trug und von der Wunde ebenfalls nichts mehr zu sehen sein dürfte änderte das nichts an seinen Schuldgefühlen. Plötzlich stand Alister auf und verließ mit Abigail den Raum. Er blendete ihr Gespräch aus und bekam so nicht mit, dass er sie bat zu gehen, weil Kiran Ruhe brauchte. Erst, als die Tür sich schloss blickte er kurz auf, fixierte dann jedoch wieder sein Glas. Es war beinahe leer, aber noch immer übertönte der Geschmack vom Blut seines Bruders alles Andere. Er registrierte nur halb, dass Alister in die Küche zurückkam und zuckte zusammen, als dieser ihn umarmte. Sein Bruder zitterte, wofür Kiran keine Erklärung wusste, keines seiner Gefühle war stark genug dafür, aber er war dankbar, dass er bei ihm war. Zögerlich legte er seine Hand auf Alisters Arm. Die ganze Zeit rauschte im Hintergrund die Dusche. Saskia wollte noch immer nicht darunter hervorkommen. Sie versuchte sich die Gedanken und Erinnerungen abzuwaschen, etwas das ihr nie gelingen würde, wie Kiran wusste, aber sie sollte es ruhig versuchen. An Tagen wie diesen dachte er immer daran aufzugeben. Es war ein ständiger Kampf mit der Kontrolle und sein Bruder half ihm sehr dabei. Nur, um so stärker er war, umso besser konnte er ihn beschützen. Ihn und Saskia.
„Geht es dir wieder besser?“ Alisters Stimme klang trocken und zitterte ebenfalls.
„Ein wenig...“ sein Bruder löste sich von ihm, löschte endlich die Kerze und schaute ihn an, doch Kiran versuchte weiterhin ihm auszuweichen. Er setzte sich ihm gegenüber und versuchte seinen Blick einzufangen.
„Sieh mich an.“ forderte er ihn auf.
Kirans Blick fand seinen, flackerte aber immer wieder weg, als wäre es ihm unangenehm.
„Ich weiß, dass es nichts bringen würde, dir ein Versprechen abzunehmen, dass du ab jetzt die Kontrolle behältst. Ich weiß aber auch dass du mich niemals absichtlich ernsthaft verletzten würdest allerdings ist mir genauso bewusst, dass es notwendig war, heute dazwischen zu gehen um dich zu uns zurück zu holen. – Kiran, ich mache mir Sorgen um dich, du scheinst dich momentan selbst zu verlieren.“
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