hatte, und kurz darauf war der Bär auch schon
wieder dicht hinter ihnen.
»Ach«, klagte der Anführer, »meine Träume sind
nun bald erschöpft, und wenn wir uns nicht schnell in
Sicherheit bringen, so sind wir verloren. Ich sehne
mich jetzt nach einem großen, tiefen See, an dessen
Ufer ein geräumiges Kanu mit zehn Rudern steht.«
Es kam wieder so; sie setzten sich in das Schifflein
und fuhren ab. Der Bär stand eine Weile unschlüssig
am Ufer und überlegte, was hier zu tun sei. Er versuchte
hineinzuwaten, aber seine Beine waren zu
kurz. Danach wollte er schnell auf die andere Seite
des Ufers laufen, doch die zehn waren klug und blieben
stets in der Mitte des Sees.
Nun blieb ihm kein anderes Mittel übrig, als den
ganzen See auszusaufen. Er öffnete seinen Rachen
himmelweit, und das Wasser strömte so reißend in
diesen hinein, als liefe es in einen bodenlosen Abgrund.
Die Brüder gaben sich alle mögliche Mühe, schnell
ans andere Ufer zu kommen, aber die Strömung war
zu stark und trieb sie pfeilschnell dem Bärenmaul zu.
»Mudschikihwis«, rief der jüngste Bruder, »jetzt ist
es Zeit, deinen Mut und deine Kraft zu zeigen. Setz
dich vorn an die Spitze des Kanus und versuche,
wenn wir nahe genug sind, deine Keule am Hirnschädel
des Bären.«
Mudschikihwis folgte und versetzte ihm auch wirklich
einen solchen Schlag, daß er ohnmächtig hin und
her taumelte. Doch als er gerade zum zweiten Schlag
ausholen wollte, gab der Bär plötzlich das gesoffene
Wasser wieder von sich, und sie wurden mit ihrem
Kanu mit Blitzesschnelle ans andere Ufer getrieben.
Dort verließen sie das Boot und liefen weiter.
Doch bald war ihnen der Bär wieder auf den Fersen,
und der Jüngste seufzte: »Ach, jetzt kommt mein
letzter Traum, in dem mir geholfen wurde. Der letzte
Zufluchtsort, den ich weiß, ist der Wigwam Jamos
oder des unsterblichen Kopfes, der hier in der Nähe
sein muß.«
So war es auch. Jener lebende Kopf, der von Pfeilen
und Kriegsfedern umgeben in seiner Wigwamecke
hing und die jungen Leute kommen sah, sprach zu
seiner Schwester: »Liebe Schwester, ich bin in einer
traurigen Lage, denn bald werden mich zehn verfolgte
Krieger um Schutz anflehen, und ich kann doch nicht,
wie ich will; drum tu, was ich dir befehle. Zuerst
nimm zwei starke Pfeile, und stecke sie vor die Tür,
damit du mit dem Wild, das sich daran aufspießen
wird, unseren Gästen ein stärkendes Mahl bereiten
kannst. Wenn dann der schreckliche Bär kommt, so
nimmst Du ruhig meinen Medizinsack von der Wand,
gehst damit vor die Tür, legst alle darin enthaltenen
Federn, Farben, Pfeilspitzen usw. um dich herum und
nennst dabei stets meinen Namen. Sollte dies nun
nicht die erwünschte Wirkung haben, so wirfst du
dem Bären meinen Kopf entgeten und rufst: ›Das ist
der Kopf meines verstorbenen Bruders!‹ Dann wird er
besinnungslos hinfallen, und die fremden Leute, die
inzwischen wohl gegessen haben werden, können
dann zu deinem Beistand herbeieilen und ihn vollends
töten. Danach zerschneidest du seinen Körper in kleine
Stücke und streust diese über die ganze Erde; denn
wenn du das nicht tust, wird er wieder lebendig.«
Die Schwester versprach, ihm zu gehorchen, und
gleich darauf erschienen die erwarteten zehn Brüder
und der grimmige Bär ebenfalls. Sie stellte den Männern
ein prächtiges Mahl vor, ging dann vor die Tür
und zog mit dem Inhalt des Medizinsacks einen magischen
Kreis um sich. Der Bär schauderte, als er diese
Dinge erblickte; doch als sie ihm nun gar den Kopf
entgegenhielt, fiel er ohnmächtig nieder, und der
Schaum kam ihm aus Maul und Nase.
Als dies die Krieger sahen, sprangen sie schnell
herbei, und Mudschikihwis versetzte ihm mit seiner
gewaltigen Keule solche Hiebe, daß das Gehirn nach
allen vier Richtungen spritzte. Darauf zerschnitten die
anderen seinen Körper und verstreuten die Stücke in
alle Weltgegenden. Aber sobald ein Stück den Boden
berührte, wurde ein kleiner Schwarzer Bär daraus,
woraus sich denn der Umstand erklärt, daß diese
Tiere im Norden einst so zahlreich waren.
Darauf gingen sie wieder in die Hütte zurück und
aßen ruhig weiter. Das Mädchen sammelte inzwischen
die Sachen des Bruders wieder ein und gab sie
in den Sack; aber der Kopf sprach nicht mehr.
Die Krieger freuten sich ungemein über ihre glückliche
Rettung, doch wußten sie nicht recht, was sie
nun eigentlich mit ihrem heiligen Wampumgürtel machen
sollten. Da sie sich sehr weit von ihrer Heimat
entfernt hatten, so gaben sie die Idee völlig auf, wieder
dahin zurückzukehren.
Eines Tages, als sie sich auf der Jagd befanden und
ihren Wampumschatz der Obhut des Mädchens anvertraut
hatten, sagte der eine: »Kommt, laßt uns zu
unserer Schwester gehen und den Kopf ihres Bruders
holen, dem es zu Hause doch zu langweilig sein
mag.« Das geschah denn auch. Sie nahmen ihn mit
auf ihre Jagdzüge und suchten ihn durch allerlei
Spaße zu erheitern; aber nur selten bewegte er seine
Augen.
Nun wurden sie einst auf einem solchen Zug von
feindlichen Indianern angefallen und, trotzdem sie wie
die Löwen fochten, nach verzweifeltem Widerstand
alle getötet. Einer der feindlichen Krieger eroberte den
Medizinsack und nahm alle schönen Farben und Federn
heraus, schmückte sich damit und rief dann die
anderen herbei, die nun allerlei Unsinn mit dem Kopf
trieben. Ja zuletzt gingen sie sogar so weit, daß sie
ihn wie einen Ball umhertanzen ließen und ihm alle
Haare ausrissen. Doch ihre Strafe blieb nicht aus;
denn alle, die sich entweder mit den Farben oder den
Federn Jamos geschmückt hatten, starben plötzlich.
»Werft nur alle Sachen weg, die ihr von unseren toten
Feinden genommen habt!« schrie darauf der Chief.
»Nur den Kopf laßt uns mit nach Hause nehmen,
damit wir ihm die Augen für immer schließen können.
« Sie nahmen ihn also mit und hängten ihn über
das heilige Feuer ihrer Medizinhütte, um ihn zu braten.
Während dieser Zeit saß Jamos Schwester einsam
in ihrer Hütte und wartete auf die Rückkehr der zehn
Brüder. Doch da diese zu lange ausblieben, ging sie
ihnen entgegen und fand sie alle erschlagen. Die
Skalps waren ihnen abgezogen, und der Kopf und der
Medizinsack ihres Bruders schienen ebenfalls in die
Hände der Feinde gefallen zu sein.
Nun färbte sie ihr Gesicht schwarz, lief weinend
und klagend auf der ganzen Erde herum und kam zuletzt
wieder in ihrer alten Hütte an. Dort sah sie zu
ihrer größten Freude noch einen magischen Pfeil und
einen Bogen ihres Bruders in der Ecke liegen – die
besten Werkzeuge, mit denen sie den Unglücklichen
wiederfinden konnte.
Nachdem sie nun abermals eine bedeutende Strecke
gewandert war, fand sie wirklich einige bekannte medizinene
Farben und Federn, die sie sorgfältig sammelte
und in einem Baum versteckte. Gegen Abend
erreichte sie auch die erste Hütte der Feinde, wo sie
besonders von den bejahrten Indianern sehr freundlich
aufgenommen wurde. Ja einer davon versprach ihr
sogar, zur Erlangung des Kopfes behilflich zu sein,
und führte sie auch darauf vor die Tür der betreffenden
Medizinhütte.
Dort sah sie nun, wie die wilden Krieger um ein
kolossales Feuer standen und den Kopf zu rösten versuchten.
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