eine kleine Blume, die man gewöhnlich an der Grenze
der kalten Zone erblickt.
Fußnoten
1 Claytonia virginica, die Lenzschönheit
33
Akukodschisch
oder die Familie der Ferkelkaninchen
Weit oben im Norden lebte ein weibliches Ferkelkaninchen
mit seinen Jungen in einer Höhle. Es war
Winter und sehr kalt. Da die Kleinen noch zu
schwach waren, um sie in dieser rauhen Jahreszeit vor
die Tür zu lassen, suchte die Mutter tagtäglich allerlei
Wurzeln und sonstige eßbare Dinge, die sie eben finden
konnte, damit sie nicht verhungerten.
Aber die Jungen waren sehr ungeduldiger Natur;
das Leben in der eintönigen Höhle war ihnen zu langweilig,
und sie wollten mit aller Gewalt hinaus in die
freie Natur. »Verhaltet euch doch ruhig!« rief ihnen
die Mutter zu. »Was wollt ihr denn draußen tun? Es
schneit und hagelt ja, als ob die Welt untergehen
wollte. Wartet doch, bis der Frühling kommt.«
Da sie ihnen jedoch schon seit längerer Zeit dasselbe
gesagt hatte, so argwöhnten die Kleinen irgendeine
Betrügerei; und sie hatten auch recht, denn als ihre
Mutter einst im Schlaf lag und ihr dabei der Mund offenstand,
bemerkten sie in ihren Zähnen die Überreste
zarter weißer Wurzeln, die man nur im Frühjahr fin-
det. Augenblicklich wanderten sie alle hinaus in den
grünen Wald, und als die Mutter erwachte, hatte sie
niemanden mehr um sich.
34
Opitschi
oder die Entstehung des Rotkehlchens
Ein alter Mann hatte einen einzigen Sohn namens Opitschi,
der war gerade in dem Alter, in dem der allgemeine
Brauch verlangte, sich durch Fasten eines
Schutzgeistes für das weitere Leben zu versichern.
Der Vater bildete sich viel auf seinen Knaben ein,
und da er sehr ehrgeizig war, so hoffte er ihn durch
außergewöhnlich langes Fasten dereinst zu einem berühmten
Mann zu machen, der alle seine Vorfahren an
Weisheit und Tapferkeit überträfe. Er baute ihm also
für den betreffenden Zweck eine kleine Hütte, führte
ihn hinein und sagte zu ihm: »Mein Sohn, sei standhaft
in dieser heiligen Zeit, damit sich ein mächtiger
Manitu deiner erbarme! Nach zwölf Tagen werde ich
dir nahrhafte Speisen und meinen Segen bringen!«
Opitschi legte sich ruhig hin, kehrte sein Gesicht
der Erde zu und wartete geduldig auf beglückende
Träume. Sein Vater besuchte ihn regelmäßig jeden
Tag und redete ihm von seinem künftigen Ruhm allerlei
schmeichelhafte Dinge vor, damit er seine Leiden
vergäße. Der Knabe sagte kein Wort dazu; doch am
Morgen des neunten Tages, als ihn Hunger und Durst
schon halb getötet hatten, seufzte er: »Ach Vater,
meine Träume bedeuten nichts Gutes; laß mich aufhören
zu fasten.«
Der Vater aber hatte ein Herz aus Stein und beschwor
ihn, zu gehorchen und noch weitere drei Tage
auszuhalten. Traurig nickte ihm Opitschi zu und verhüllte
sein Gesicht.
Am Abend des elften Tages wiederholte er nochmals
seine Bitte, und zwar so leise, daß sie der Vater
kaum hören konnte; aber er mußte gehorchen. Er lag
da wie ein Toter, und nur ein schwaches Atmen zeigte,
daß der Lebensfunke noch nicht ganz in ihm erloschen
war.
Als am folgenden Morgen der Vater wiederkam,
hörte er, wie sein Sohn laut mit sich selbst sprach. Er
schlich sich daher leise vor die Tür und sah durch eine
Ritze, wie er sich den Hals mit roter Farbe bemalte,
wobei er seufzte: »Mein Vater hat mein Glück als
Mensch zerstört; nur er allein ist der Verlierer und der
Leidende, denn er setzte meinen Bitten taube Ohren
und ein kaltes Herz entgegen. Aber ich bin ihm gehorsam
gewesen, und dafür werde ich auch in meinem
neuen Stand recht glücklich sein. Mein Schutzgeist ist
mächtig und gerecht.« Darauf flog Opitschi wie ein
Vogel auf die höchste Stange seines Wigwams, verwandelte
sich in ein Rotkehlchen und rief seinem un-
glücklichen Vater zu: »Bedaure nicht, was du getan
hast! Ich werde stets der Freund der Menschen sein,
werde mich stets in ihrer Nähe aufhalten, sie mit meinem
Gesang erfreuen und ihnen Frieden und Freude
bringen!«
Darauf schwang es seine Flügel und flog lustig ins
nächste Wäldchen.
35
Die himmlischen Geschwister
Wabi oder der weiße Falke war ein berühmter Jäger,
der sich seine einsame Hütte tief in einem finsteren
Wald aufgeschlagen hatte. Einst kam er auf der Jagd
in eine große Prärie, auf der er schön geformte Fußstapfen
erblickte, die er, von Neugier getrieben, weiter
verfolgte. Sein Weg führte ihn über weiches Gras und
reizende Blumen zu einem geheimnisvollen Kreis, der
das Ende seiner Reise bildete, da dort die Fußstapfen
aufhörten. Er setzte sich ruhig hinter einen dicken
Baum und wartete geduldig der Dinge, die da kommen
würden.
Bald hörte er eine süße Musik in der Luft, die
klang so schön, wie er sie von Medizinmännern nie
gehört hatte; dabei schwebte ein großer Körper langsam
der Erde zu, und je näher dieser kam, desto lieblicher
klang die Musik. Der betreffende Körper war
ein geräumiger Korb, in dem zwölf wunderschöne
Mädchen saßen, die, sobald sie auf der Erde waren,
munter heraushüpften und unter den Klängen eines
helleuchtenden Feuerballs, der wie eine Trommel geschlagen
wurde, allerlei lustige Tänze aufführten.
Obwohl sie alle in gleicher himmlischer Schönheit
erglänzten, gefiel Wabi die Jüngste doch am besten,
weshalb er sich auch gleich wie toll auf sie stürzte,
um sie zu erhaschen; aber die lieben Kinder waren
viel schneller als er; wie der Blitz saßen sie alle wieder
im Korb und segelten eilig dem Himmel zu.
Am nächsten Tag fand sich Wabi abermals in der
Nähe des magischen Kreises ein, hatte sich aber, um
die holden Mädchen zu täuschen, in ein Opossum verwandelt.
Der Korb senkte sich auch wieder herunter,
und die netten Geschwister tanzten noch anmutiger
als am Tag vorher. Wabi kroch inzwischen langsam
heran, aber sobald sie ihn bemerkten, hüpften sie wieder
in ihren Korb, und fort ging's, hinauf in die Höhe.
Das betrübte Wabi so sehr, daß er in der darauffolgenden
Nacht kein Auge zutun konnte.
Als er sich am Morgen darauf wieder in aller Frühe
an jenem Ort eingefunden hatte, bemerkte er einen
alten halbverfaulten Baumstamm in der Nähe des
Kreises liegen, der von einer Menge Mäuse bewohnt
war. Er bewunderte die kleinen schnellfüßigen Tierlein
und dachte bei sich: Eine solche Gestalt wird
nicht so leicht auffallen und von den schönen Mädchen
auch nicht weiter beachtet werden. Er schleppte
also den Baumstumpf in die Mitte des Kreises und
verwandelte sich in ein niedliches Mäuslein. Kurz danach
ertönte die Musik, und die himmlischen Geschwister
ließen sich wieder hernieder.
»Aber wo kommt denn dieser alte Baumstamm
her?« sagte die Jüngste. »Der war doch gestern nicht
da.«
Doch die anderen achteten nicht darauf, sondern
setzten sich neben ihn und schlugen mit ihren Stöcken
darauf, so daß die erschrockenen Mäuse eilig fortliefen.
Die Mädchen eilten ihnen nun nach und töteten
alle mit Ausnahme Wabis, der sich schnell seine eigentliche
Gestalt wiedergab und die jüngste seiner
Verfolgerinnen mit beiden Armen festhielt.
Als dies ihre Geschwister sahen, sprangen sie
schnell in ihren himmlischen Korb, der sie bald in Sicherheit
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