brachte.
Wabi war nun überglücklich und bot seine ganze
Liebenswürdigkeit auf, seiner Frau die himmlische
Heimat vergessen zu machen. Er wischte ihr in zärtlichster
Weise die Tränen aus den Augen, erzählte ihr
die interessantesten Jagdabenteuer, machte ihr aus den
feinsten Fellen ein weiches Lager in seinem Wigwam
und hatte auch mit der Zeit dafür die beseligende Genugtuung,
daß es ihr in seiner Nähe gefiel und sie ihn
ebenfalls liebte.
So verstrichen Sommer und Winter schnell, und als
der Frühling seine Blumen ersprießen ließ, blühte
auch in Wabis Wigwam ein allerliebster Knabe, der
Vater wie Mutter gleich viel Freude machte.
Aber am Herzen des Weibes nagte doch sichtlich
ein geheimer Kummer; sie war eine Tochter der Sterne,
und ihr alter Vater dort oben weinte täglich bittere
Tränen zu ihr herunter. Doch sie sagte ihrem armen
Mann nichts davon.
Als sich dieser nun einst auf der Jagd befand und
sie ihren Vater wieder laut weinen und wehklagen
hörte, konnte sie sich der Sehnsucht nicht enthalten,
ihn wiederzusehen. Sie flocht also einen magischen
Korb, tat allerlei Kuriositäten der Erde hinein, nahm
ihren Sohn an der Hand, ging damit hin in den heiligen
Kreis und ließ sich durch ihren wehmütigen Gesang
hinauf in den Himmel tragen.
Wabi hörte diesen Gesang, und da er die Stimme
sehr wohl kannte, eilte er mit Windesschnelle zurück
– aber er kam zu spät; kaum daß er sah, wie sie
von den Sterngeistern in Empfang genommen wurde.
Einsam und verlassen stand er nun da; niemand hörte
seine Klagetöne, und niemand sah seine Tränen, die
er ein ganzes Jahr lang weinte. Kein himmlisches
Wesen ließ sich mehr in seiner Nähe blicken; der magische
Kreis blieb unbesucht, und seine Frau schien
ihn unter den Freuden des Himmels auf immer vergessen
zu haben. So war es denn auch. Nur ihr kleiner
Sohn erinnerte sie zuweilen an das Leben auf der Erde
und äußerte sogar, als er größer und stärker geworden
war, einmal den Wunsch, hinabzugehen und seinen
Vater zu besuchen.
Das gefiel seinem Großvater sehr, und er erlaubte
auch seiner Tochter, mitzureisen. Darauf setzten sie
sich in den magischen Korb und ließen sich gerade
vor der Hütte Wabis nieder, der darüber vor Freude
ganz außer sich war. Sie erzählten ihm nun von den
Schönheiten der Sterne und den oberen Regionen, wo
man ihn ebenfalls zu sehen wünsche; doch solle er,
wenn er kommen wolle, von jedem Tier und jedem
Vogel der Erde irgendein Stück – entweder Fuß, Flügel
oder Kralle – mitbringen.
Wabi war's zufrieden, ging Tag und Nacht auf die
Jagd und hatte bald die verlangten Gegenstände gesammelt.
Ein magischer Korb trug ihn dann ebenfalls
in die Höhe, wo er vom Chief der Sterne äußerst
freundlich empfangen wurde. Dann wurde ein großes
Fest ihm zu Ehren veranstaltet, und der allmächtige
Gastgeber befahl allen Eingeladenen, sich ein beliebiges
Stück von einem Erdentier auszusuchen, was
denn auch geschah.
Darauf gab es denn eine ungeheure Konfusion,
denn diejenigen, die sich Flügel genommen hatten,
wurden Vögel und flogen fort; diejenigen, die
Schwänze oder Klauen erwischt hatten, wurden zu
verschiedenen Vierfüßlern, je nach dem Ursprung des
betreffenden Stückes, usw.
Wabi nahm die Feder eines weißen Falken, und
Frau und Sohn folgten seinem Beispiel. Danach flo-
gen sie herab auf die Erde und wurden die Stammeltern
des berühmten Stammes der Wabis oder der Weißen
Falken.
36
Odschig Annang
oder der Sommermacher
Am südlichen Ufer des Oberen Sees lebte ein berühmter
Jäger namens Odschig, den alle seine Nachbarn
für einen mächtigen Manitu hielten, da ihm nämlich
alles gelang, was er unternahm.
Auch sein Sohn schien viel für die Zukunft zu versprechen,
denn obgleich er erst dreizehn Jahre alt war,
machte er doch schon auf die stärksten Tiere Jagd,
und selten flog sein Pfeil am Ziel vorbei. Das einzige
nun, was diesem in der Welt nicht gefiel, war der
kalte, lange Winter alljährlich; denn da erfror er sich
stets die Finger so sehr, daß er den Bogen nicht mehr
spannen und folglich auch nichts mehr schießen konnte.
Dann saß er oft tagelang zu Hause und weinte über
den tiefen Schnee, über die anhaltende Kälte und über
die Seltenheit des Wildes in den unwegsamen Wäldern.
Eines Tages, als er sich wieder einmal vergebens
auf der Jagd müde gelaufen hatte und sich nun niedergeschlagenen
Herzens an einen Baumstamm lehnte,
bemerkte er ein rotes Eichhörnchen vor sich, das be-
gierig an einem Tannenzapfen nagte.
»Mein Enkel«, sagte das Tierlein zu ihm, »töte
mich nicht, sondern merke auf meine Worte. Ich habe
deine Klagen gehört und deine Tränen gesehen und
kenne auch deinen heißesten Wunsch: Du sehnst dich
nämlich nach dem Sommer. Wohlan denn! Wenn du
meinem Rat folgst, so wirst du dich des ewigen Sommers
erfreuen und Vögel und Tiere in Hülle und Fülle
zu schießen haben; auch ich, da ich nahe am Verhungern
bin, werde mich dann stets zu sättigen wissen.
Höre also: Sobald du nach Hause kommst, wirfst du
Pfeil und Bogen unwillig weg, legst dich weinend in
eine Ecke und weist jede Speise und jeden Trank mürrisch
zurück. Wenn dich deine Mutter fragt, so antwortest
du ihr nicht. Dann wird dich dein Vater bitten,
ihm doch mitzuteilen, was dir fehle, und dir auch
zugleich sagen, daß er dir sicherlich helfen könne, da
er ein mächtiger Geist sei. Darauf erzählst du ihm in
gebrochenen Worten, daß du deshalb so traurig seist,
weil die Kälte so anhalte und der Schnee nicht wegschmelze,
und bittest ihn dann um den ewigen Sommer.
Dann wird er dir sagen, daß er, obgleich dies
eine harte Arbeit sei, sein möglichstes zur Erfüllung
deines Wunsches tun wolle.«
Hier hielt das Eichhörnchen inne. Der Knabe versprach,
seinen Rat zu befolgen, und er tat es auch.
»Du verlangst viel von mir, mein Sohn«, sagte Od-
schig; »aber bei meiner großen Liebe zu dir kann ich
dir nichts abschlagen, obwohl ich wegen des Erfolgs
im Zweifel bin.«
Am folgenden Tag veranstaltete Odschig ein großes
Fest und lud alle seine Freunde dazu ein. Sie erschienen
auch alle recht pünktlich, taten sich am fetten
Hirsch- und Bärenfleisch gütlich und versprachen
ihm, an seiner Reise teilzunehmen – ein Versprechen,
das sie auch nach drei Tagen wirklich erfüllten.
Als sie sich nun zwanzig Tage auf der Wanderschaft
befanden, kamen sie an den Fuß eines Berges
und erblickten dort die Fußstapfen eines Menschen
und die Blutstropfen eines frisch getöteten Wildes. Da
sie sehr hungrig und erschöpft waren, so folgten sie
jenen Spuren in der Hoffnung, irgendeine mitleidige
Menschenseele zu finden, die sie zur Fortsetzung ihrer
Reise stärken sollte. Bald sahen sie auch eine kuriose
Hütte vor sich, und Odschig riet seinen Begleitern,
sich beim Hineingehen ja recht ernst zu verhalten und
beileibe nicht zu lachen.
Diese Ermahnung war übrigens auch sehr nötig,
denn an der Tür stand ein Mensch von so merkwürdiger
Figur, daß sie im Zweifel waren, ob sie ihn überhaupt
zur Menschenrasse rechnen sollten. Sein Kopf
war ganz abscheulich groß und häßlich, die Zähne
standen ihm nach auswärts, die Augen waren vierekkig,
und Arme hatte er gar keine. Alle wunderten sich,
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