erwachte zuerst, sah aber sonst niemand um sich als
seinen Bruder, der wie ein Klotz dalag und sich nicht
regte und bewegte. Nach zehn Tagen drehte er sich
stillschweigend um und schlief zehn weitere Tage auf
der anderen Seite; dann erst erwachte auch er.
Das Mädchen wuchs sehr schnell zu einer blühenden
Jungfrau heran; aber der Knabe blieb ein kleiner
Knirps, und es dauerte bei ihm ungemein lange, bis er
den Gebrauch seiner kurzen Beine gelernt hatte. Danach
machte ihm seine Schwester Pfeil und Bogen,
hängte ihm eine Muschel um den Hals und gab ihm
den Namen Wadäsäninid oder der kleine Mann mit
der Muschel.
Nun ging er täglich aus und schoß auf alles, was
ihm in den Weg lief oder in den Bereich seines Pfeils
flog. Anfänglich hatte er es hauptsächlich auf kleine
Vögel abgesehen, doch da er mit der Zeit Pfeil und
Bogen besser zu führen lernte, wagte er sich auch an
größere Tiere und entfernte sich mitunter tagelang von
seinem heimatlichen Wigwam.
Als er einst wieder einmal auf die Jagd gegangen
und an einen großen See gekommen war, sah er einen
mächtigen Riesen vor sich, der Biber fing. Der Kleine
setzte sich unbemerkt ans Ufer hin und beobachtete
seine Bewegungen. Im Vergleich mit jenem Mann
war er nicht größer als ein Insekt, und doch war er so
frech, sich leise an ihn heranzuschleichen und ihm mit
Hilfe seiner magischen Muschel einen Biberschwanz
zu stehlen.
Der Riese war am Abend ganz erstaunt, als er bemerkte,
daß einem Biber der Schwanz fehlte, da er
doch niemanden in seiner Nähe gesehen hatte. Als es
ihm am anderen Tag ebenso ging, sagte er zu sich selber:
»Ich möchte doch wissen, was das für ein vermaledeiter
Hund ist, der mir jedesmal einen Biberschwanz
abbeißt; wenn ich den erwische, soll er sich
sicherlich auf meinem Spieß zu Tode zappeln.«
Er paßte also auf, und unser Zwerg mußte nun sehr
auf seiner Hut sein, um abermals, ohne Schaden zu
nehmen, einen Schwanz wegstibitzen zu können. Als
der Riese darauf seine Ladung nach Hause brachte
und sah, daß er trotz aller Wachsamkeit doch bestohlen
worden war, fing er an, so fürchterlich zu fluchen
und zu schimpfen, daß sein ganzes Haus wackelte und
das Laub der umstehenden Bäume abfiel. Auch nicht
einmal eine Spur war ringsum von einem Tier oder
einem Menschen zu entdecken, denn Wadäsäninid
war so federleicht, daß er über das Gras wie eine
Mücke über den Schnee marschieren konnte.
Am folgenden Tag ging der Riese ein paar Stunden
früher auf den Biberfang und war schon weg, als der
Kleine ankam. Dieser eilte ihm nun nach und fand ihn
vor seiner Hütte stehen, wo er den Bibern die Felle
abzog.
»Wer bist du, kleiner Mann?« fragte ihn der Riese.
»Ich habe große Lust, dich an einen meiner Pfeile
zu stecken!«
Da machte sich denn der Zwerg, so schnell er
konnte, aus dem Staub, und der ihm nachgeschickte
Pfeil flog über seinen Kopf hinweg, ohne daß er ihm
den geringsten Schaden zufügte.
Zu Hause angekommen, sagte er zu seiner Schwester:
»Liebe Schwester, es ist Zeit, daß wir uns trennen,
denn ich werde verfolgt. Auch du mußt fliehen,
und das gleich. Sage mir, wohin du gehen willst.«
»Ich gehe dahin, Bruder, wo die Sonne aufgeht;
dort ist der schönste Teil des Himmels, den ich von
jeher geliebt habe; und wenn du zuweilen dort die
schönen glänzenden Wolken erblickst, so denke, es
ist deine Schwester, die sich bemalt hat.«
»Und ich, Schwester, ziehe hinauf auf die hohen
Berge; dort ist das Wasser klar und die Luft rein, und
ich kann dich von dort in aller Frühe an sehen. Dann
wird man mich Pakwadschininis oder den wilden
Mann der Berge nennen. Doch ehe wir scheiden, muß
ich noch einmal ausziehen, um mächtige Manitus aufzusuchen.
«
Darauf verließ er sie und bereiste die ganze Oberfläche
der Erde. Überall, wo er sich nur blicken ließ,
wurde er freundlich aufgenommen; doch als er in die
Mitte der Erde kam, ging's ihm anders. Dort saß nämlich
ein gräßlicher Manitu vor einem ewig siedenden
Wasserkessel, in den er ihn ohne weitere Umstände
hineinwarf. Zum großen Glück war jedoch sein
Schutzgeist gegenwärtig, der ihn schnell rettete und
wieder zurück zu seiner Schwester führte, der er nun
sein Unglück erzählte.
Darauf trennten sich beide. Er ging hinauf in die
wilden Berge, und seine Schwester wurde vom Wind
nach Osten geführt, wo man sie heute noch in Gestalt
des Morgensterns erblickt.
32
Bibon und Sigwan
oder Winter und Frühling
Es war Winter. Überall war es tot und öde, und das
einzige, was man hörte, war der Nordwind, der die
Bäume schüttelte und den Schnee vor sich hertrieb.
Am Ufer eines zugefrorenen Flusses stand ein halb
zerfallener Wigwam, aus dem nur noch wenig Rauch
aufstieg, denn der Greis, der ihn bewohnte, war so
schwach und erschöpft, daß er sich die Schneeschuhe
nicht mehr fest binden konnte, viel weniger, daß er
imstande war, einen Baum umzuhauen und ihn heimzuschleppen.
Als seine letzten Kohlen am Verlöschen waren und
er seiner baldigen Erstarrung entgegensah, ging plötzlich
die Tür seiner Hütte auf, und ein junger Mann
hüpfte leicht wie eine Feder herein. Seine Wangen
strahlten von Jugendfülle und Jugendkraft; aus seinen
Augen funkelte allbeglückende Liebe, und seine Lippen
umspielte ein unschuldiges Lächeln. Seine Stirn
umgab ein lieblicher Kranz von frischem Waldgras,
und in jeder Hand hielt er einen duftenden Strauß frischer
Frühlingsblumen. Alle seine Bewegungen
waren tanzend.
»O du guter, schöner Fremdling«, sagte der Greis,
»setze dich eine Weile zu mir, und erzähle mir von
dem fernen Land, aus dem du kommst. Laß uns die
Nacht zusammenbleiben, und ich werde dich auch mit
dem Geheimnis unterhalten, in dem meine Kraft besteht.
«
Darauf stopfte er dem Jüngling seine beste Pfeife,
und die Unterhaltung begann.
»Wenn ich atme«, sagte der Alte, »stehen Bäche
und Flüsse still, und ihr Wasser wird so hart und rein
wie Kristall.«
»Der Hauch meines Mundes macht Berge und
Täler grün«, erwiderte der Jüngling.
»Wenn ich meine weißen Locken schüttle, so deckt
Schnee das ganze Land, und alle Blätter fallen von
den Bäumen. Mein Atem treibt die Vögel in ein fremdes
Land, die wilden Raubtiere verbergen sich vor
ihm, und die Erde wird so hart wie Feuerstein.«
»Doch wenn ich, Großvater, meine Locken schüttle,
so ergießt sich ein belebender Regen auf die Erde;
die Pflanzen strecken ihre zarten Köpflein heraus und
sehen so munter drein wie unschuldige Kinderaugen.
Mein Ruf bringt die Vögel wieder zurück; mein Atem
taut Bäche und Ströme auf, und wohin du dann siehst,
erblickst du die reinste Freude.«
Der Alte schwieg. Allmählich ging die Sonne auf
und verbreitete eine angenehme Wärme. Rotkehlchen
und Blaumeise sangen, die Flüsse erwachten aus ihrer
winterlichen Erstarrung, und Blumen und Kräuter
schössen lustig aus der weichen Erde empor.
Der Tag zeigte den wahren Charakter des Greises
vollständig; denn als ihn der Jüngling aufmerksam
betrachtete, hatte er nur das eisige Bild Bibons vor
sich. Seine Augen tropften; er wurde immer kleiner
und kleiner, bis er sich zuletzt ganz und gar auflöste.
Auf seinem Feuerplatz erblühte die weiße Miskodid1,
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