Der älteste Sohn griff rüstig zu den Waffen seines Vaters
und hatte auch Erfolg damit. Nach sechs Monaten
schon starb die Mutter, und die Kinder hatten auch ihr
vorher geloben müssen, dem Wunsch ihres Vaters
gemäß zu leben.
Der Winter ging vorüber, und der Frühling erschien
mit seinen mannigfachen Freuden. Der älteste
Junge ging täglich auf die Jagd, die Schwester besorgte
den Haushalt und pflegte ihren schwächlichen Bruder.
So lebten sie zufrieden und ruhig; aber dem Ältesten
behagte diese Einsamkeit doch nicht, denn er
sagte eines Tages zu seiner Schwester: »Höre, unser
Leben ist ein wenig zu langweilig, und ich habe große
Lust, in die weite Welt zu wandern und die Dörfer
und Städte der anderen Menschen aufzusuchen.«
»Das wäre unrecht von dir«, erwiderte das Mädchen,
»denn wir haben unseren Eltern versprochen,
stets beieinander zu bleiben und hauptsächlich unseren
schwächlichen Bruder nicht zu vernachlässigen,
der doch unsere Hilfe so sehr benötigt.«
Der Knabe hörte diese Worte stillschweigend an,
griff dann nach Pfeil und Bogen und ging fort, ohne
wiederzukommen. Da wurde denn auch die Schwester
des einsamen Lebens überdrüssig und sehnte sich
ebenfalls nach größerer Gesellschaft. Sie suchte für
den Kleinen so viele Lebensmittel zusammen, als sie
nur finden konnte, packte ihre Siebensachen zusammen
und verließ unter dem Vorwand, daß sie zu
ihrem Bruder gehen wolle, den elterlichen Wigwam.
Sie verheiratete sich bald und vergaß ihren kränklichen
Bruder gänzlich.
Als dieser den zurückgelassenen Vorrat aufgegessen
hatte, ging er traurig im Wald umher und suchte
sich Beeren und eßbare Wurzeln; als aber der Winter
mit seinen Schrecken kam und überall tiefer Schnee
das Land bedeckte, war er gezwungen auszuwandern
und sein ferneres Leben dem Zufall zu überlassen. Er
brachte die Nächte in hohlen Bäumen zu und suchte
sich bei Tag solche Knochen, an denen die Wölfe
noch etwas Fleisch gelassen hatten. Dadurch wurde er
mit den Wölfen so vertraut, daß er sich getrost in ihre
Nähe wagte und später sogar mit ihnen zusammen aß
und wohnte.
Die Wölfe gewannen ihn mit der Zeit recht lieb und
versorgten ihn reichlich mit allem, was er brauchte,
und als der belebende Frühling wieder erschien, nahmen
sie ihn mit ans nahe Seeufer.
Gegenüber stand der Wigwam seines ältesten Bruders.
Jener Jäger befand sich eben auf der Jagd, als er
plötzlich das Schreien eines Kindes – seines verlassenen
Brüderleins – hörte. »Nisia, Nisia!« rief der Kleine.
»Scheikwuh gusu nei mei in kwun iw!« Das heißt:
»Mein Bruder, mein Bruder! Sieh her, wie ich zum
Wolf werde.«
Und das wurde er auch richtig. Seine Stimme klang
wie die eines Wolfs, sein Körper wurde behaart, und
an seinem Hals wuchsen noch zwei weitere Beine heraus.
Sein Bruder, der ihn gleich erkannte, lief so schnell
wie möglich zu ihm; doch als er bei ihm ankam, war
er bereits zum vollständigen Wolf geworden und verschwand
als solcher im Dickicht des Waldes.
38
Mitscha-Makwe
oder der Krieg mit dem Riesenbären, der den
Wampumgürtel besaß
Hoch oben im Nordwesten lebte ein großer Magier
namens Jamo mit seiner Schwester, die außer ihm nie
ein anderes menschliches Gesicht gesehen hatte. Jamo
führte ein recht bequemes Leben; auf der Jagd brauchte
er sich nicht hungrig und müde zu laufen, denn
wenn ihm Fleisch mangelte, so steckte er einfach am
Abend einige Pfeile vor seinem Wigwam in den
Boden, und am anderen Morgen fand seine Schwester
an jedem davon ein fettes Tier stecken.
Eines Tages sagte Jamo: »Schwester, ich ahne, daß
die Zeit nicht mehr fern ist, in der du krank werden
wirst, deshalb beachte meinen Rat: Nimm einige notwendige
Geräte zu dir und mache dir irgendwo im
Wald ein Feuer an. Wenn du Fleisch brauchst, so will
ich dir zeigen, wo welches ist; wenn du unwohl bist,
so meide meine Wohnung und bringe auch nichts von
deinen Sachen hinein. Was mich anbelangt, so werde
ich alles für dich tun, was ich kann; doch wenn du
meinem Rat nicht folgst, so ist dies mein Tod.«
Sie versprach, ihm zu gehorchen. Kurze Zeit danach,
als ihr Bruder einmal ausgegangen war, um dem
Gesang der Vögel zu lauschen, und sie ihr langes
Haar kämmte, nahte jener Augenblick, von dem er gesprochen
hatte. Gleich lief sie aus der Hütte, vergaß
jedoch in der Eile ihren Gürtel mitzunehmen. Als sie
dies später bemerkte, stand sie eine Zeitlang unschlüssig
da und wußte nicht recht, ob sie wieder umkehren
oder den Gürtel im Stich lassen sollte. Doch,
dachte sie, mein Bruder ist ja nicht da und sieht mich
nicht; ich kann ihn also holen.
Das tat sie denn auch, und kurz darauf kam der
Bruder. Er wußte gleich, was ihr fehlte, und rief weinend:
»O Schwester, jetzt hast du mich getötet; es ist
nun einerlei, ob du gehst oder bleibst.«
Dann legte er sein Jagdgewand ab und setzte sich
traurig in die Ecke. Bald fingen seine Füße und Beine
an zu schwellen, so daß er sich nicht rühren konnte.
Die Geschwulst verbreitete sich allmählich über den
ganzen Körper, und er fühlte sein Ende herannahen.
Da sagte er zu seiner Schwester: »Dort in jenem
Winkel hängen mein Medizinsack und meine Streitaxt,
die sehr scharfe Ecken hat. Sobald die Geschwulst
meine Brust erreicht hat, schlägst du mir
damit den Kopf ab, steckst ihn dann in jenen Sack,
den du aber etwas offen lassen mußt, und dann hänge
mich mit dem Kopf so, daß ich stets die Tür sehen
kann; und vergiß auch nicht, Pfeile und Bogen in
meine Nähe zu legen. Behalte nur einen Pfeil für dich;
er wird dir schon genug Lebensmittel verschaffen.«
Die Schwester versprach, seinem Willen nachzukommen,
doch fürchtete sie sich ein wenig, als der bezeichnete
Moment kam. Aber der Bruder lächelte ihr
Mut zu, und mit einem gewaltigen Hieb wurde der
Kopf vom Rumpf getrennt. Danach hängte sie ihn an
den besagten Ort, wo er immer aus seinem Sackloch
hervorsah, als ob er noch lebe. Das war übrigens auch
der Fall, denn er sprach sogar ständig mit seiner
Schwester, unterhielt sich über allerlei, gab ihr mancherlei
Ratschläge und erzählte ihr auch, daß ihm
noch verschiedene weitere unangenehme Schicksale
bevorständen, die ein mächtiger Manitu, dessen Willen
er sich beugen müsse, über ihn verhängt habe. –
Lassen wir ihn nun einige Minuten hängen.
In einer waldigen Gegend des Nordens hatte sich ein
kriegslüsternes Volk niedergelassen, das mit allen
Nachbarstämmen in ständigem Kampf und Streit lag.
Zu jenem Stamm gehörte auch eine Familie, die aus
zehn kräftigen Männern bestand. Der jüngste davon
hatte erst kürzlich sein Gesicht geschwärzt, sich zum
Fasten hingelegt und dabei außergewöhnlich günstige
Träume gehabt.
Als er diese seinen anderen Brüdern erzählte, er-
kannten sie darin die Fingerzeige des Kriegsgottes
und wünschten unter seiner Anführung einen Kriegszug
zu unternehmen. Darauf setzten sie sich nieder,
sangen ihre wilden Lieder und schlugen ihre weithin
hallenden Trommeln dazu. Der drittälteste davon, mit
Namen Mudschikihwis – bekannt durch seine Dummheit
und Hanswursterei –, nahm eine dicke Keule, zerschmetterte
damit den dicksten Pfosten der Hütte und
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